Jürgen Bärsch ist Liturgiewissenschaftler. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung des Weihnachtsfestes. Und er weiß, warum Familie heute viel mehr ist als Mutter, Vater, Kind ... Sarah Ritschel von Ausburger Zeitung hat ihm ein paar Fragen gestellt:
SR: Herr Bärsch, Weihnachten gilt wie kein anderes als Fest der Familie. Familienformen aber haben sich im Lauf der Jahrzehnte pluralisiert. Wirkt sich das auch auf die Bedeutung von Weihnachten aus?
Jürgen Bärsch: Zumindest fällt auf: Wie vielgestaltig Familienformen auch immer sein mögen, der Wunsch vieler ist groß, mit ihrer Familie an Weihnachten zusammen zu sein und gemeinsam zu feiern. Wer alleine lebt oder weit entfernt von seiner Familie, den zieht es an Weihnachten nach Hause: „Driving Home For Christmas“ spielt auf dieses Bedürfnis an. Dahinter steht wohl eine tiefer liegende Sehnsucht. Menschen wollen, dass ihre Beziehungen zueinander gelingen. Mit Weihnachten verbinden sie deshalb die Erinnerung an die Geborgenheit und Liebe, die sie in der eigenen Familie erlebt haben.
SR: Spielt die religiöse Bedeutung noch eine zentrale Rolle?
Bärsch: Sicher wird Weihnachten als Fest der Geburt Jesu Christi von vielen Menschen kaum mehr wahrgenommen. Es ist aber auch schwerer geworden, in einer seit Wochen inszenierten glitzernden Winterweihnachtswelt mit Glühwein- und Bratwurstduft das Eigentliche zu sehen, dass Gott für uns Mensch wurde. Allerdings fällt mir auf: Die vielen muslimischen Flüchtlinge, die jetzt erstmals das Weihnachtsfest bei uns erleben, sind gerade an seiner religiösen Bedeutung interessiert. Sie wollen wissen, was und warum wir da feiern und stellen Vergleiche mit ihrer religiösen Festkultur an. Ich bin nicht sicher, ob sie immer auf auskunftsfähige Christinnen und Christen bei uns treffen.
Die ursprüngliche Definition von Familie ist relativ eng gefasst als dauerhafte Verbindung von Mann und Frau mit gemeinsamem Haushalt und mindestens einem Kind.
SR: Was verstehen Sie heute unter Familie?
Bärsch: Keine Frage, neben das klassische Idealbild der Familie sind inzwischen viele andere Familien- und Beziehungsformen getreten. Das ist zunächst Ausdruck einer pluralen Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensformen nicht bewertet, sondern gleichberechtigt nebeneinander toleriert. Wichtig scheint mir aber, dass Kinder in den hier gelebten Werten wie Treue, Verlässlichkeit, das Einstehen füreinander aufwachsen und die Erfahrung von Liebe und Geborgenheit machen können. Zudem darf man nicht übersehen, dass ja auch die Heilige Familie von Nazareth keineswegs dem Idealbild einer Familie entsprach, wie es sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert entwickelt hat.
SR: Ist die Bindung zwischen Familienmitgliedern tendenziell enger, je kleiner die Familie ist?
Bärsch: Dabei wäre zu fragen, was man genauer unter Bindung versteht. Ich denke aber, dass die Bindung zwischen Kindern und Eltern und zwischen den Geschwistern untereinander in einer größeren Familie keineswegs geringer sein muss. Bei einer Familie mit einem Einzelkind ist vermutlich die Gefahr größer, dass sich die Eltern an ihr Kind klammern. Das wäre eine Bindung, die sich wohl eher als schädlich erweist.
SR: Bei Familien mit wenigen Kindern: Beobachten Sie die Tendenz, das eine Kind zu überhöhen? Wenn ja, wie merkt man das an Weihnachten?
Bärsch: Eine solche Tendenz ist sicher nicht auszuschließen. Wenn das Einzelkind alle Erwartungen erfüllen muss, die die Eltern insgeheim hegen, konzentriert sich fast alles auf das eine Kind. An Weihnachten kann sich das in einer Fülle von Geschenken ausdrücken. Denn alle in der Verwandtschaft wollen etwas schenken, sodass bei einem Einzelkind oft schon eine Vielzahl von Geschenkpaketen zusammenkommt.
SR: Man hat den Eindruck, dass an Weihnachten das Ideal der Bilderbuchfamilie besonders zelebriert werden soll. Verursacht das Stress?
Bärsch: Weihnachten ist eine Ausnahmesituation. Mit dem Fest verbinden sich vielfach unausgesprochene Erwartungen an die „schönsten Tage im Jahr“. Die sollen perfekt sein – und vielleicht sogar noch ein bisschen besser. Das ist Stress pur! Wenn dann etwas dazwischenkommt, eine Panne beim Kochen, ein unpassendes Geschenk, eine unbedachte Äußerung, kann sich das aufgestaute Erwartungspotenzial in einer Katastrophe entladen.
SR: In vielen Familien läuft Weihnachten immer gleich ab – warum ist dieses Ritual so wichtig?
Bärsch: Rituale geben uns Sicherheit. Sie sind wie ein Geländer, an dem ich mich in angespannten, bewegenden Situationen festhalten kann. Weil auch das Weihnachtsfest mit vielen Spannungsmomenten verbunden ist, haben sich in Familien Heiligabend-Rituale gebildet: das Essen, das Klingeln des Glöck-chens, das Entzünden der Lichter, das Singen, das Auspacken der Geschenke, die Weihnachtswünsche – all das spielt sich in einer bestimmten Weise ab. Im neuen katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ findet sich sogar eine Feier für eine häusliche „Heiligabend-Liturgie“. In der für alle emotional aufgeladenen Stimmung des Heiligen Abends schützen uns solche Rituale vor bösen Überraschungen. Deshalb sollte man daran auch nichts ohne Not ändern, und wenn doch, dann nur, wenn alle damit einverstanden sind.
Interview: Sarah Ritschel