Literatur und Wissen

Literatur und Wissen
© Moritz Kindler, Unsplash

Das Feld von Wissen und Literatur ist Schnittstellenforschung, die nur ansatzweise und vorsichtig betrieben werden kann, durch die Entwicklungen von Digitalisierung und Vernetzung jedoch weiter an Bedeutung gewinnt. In der heutigen so genannten Wissensgesellschaft werden individuelles wie kollektives Wissen als allgemeine Ressource und Notwendigkeit für Produktivität und Fortschritt verstanden. In Anbetracht breiter Wissenszugänge scheint das ‚Universalgelehrtentum‘ mitsamt der damit verbundenen Ansprüche aus gutem Grund fragwürdig geworden. Doch bleibt eine breite Informiertheit für die dichterische Produktion unabdingbar, denn wie schon Gottfried Benn in seiner Poetikvorlesung an der Universität Marburg 1951 sagte: „der Lyriker kann gar nicht genug wissen“. Dieses Zitat unterstreicht die nach wie vor bestehende Relevanz eines breiten Wissensfundaments für die dichterische Schöpfung und verweist darauf, dass Künstler:innen womöglich zu den letzten verbliebenen Universalgelehrten der Gegenwart zählen.

Die Berührungspunkte zwischen Literatur und Wissen sind dabei nicht nur thematischer Natur, also so etwa bei dem Psychiater und Schriftsteller Alfred Döblin zu finden, der die zeitgenössische psychiatrische Forschung in seine Werke einfließen lässt. Vielmehr betrifft der Austausch zwischen Poetik und Wissenschaften auch formale und konzeptionelle Aspekte: So führt etwa Daniel Kehlmann in seinem historischen Roman Tyll (2017) vor, dass das Erzählen von Geschichten wie das Schreiben von Geschichte als Vergangenheit durchaus vergleichbaren, narratologischen und gleichzeitig anthropologischen Prinzipien unterliegt. Jenseits des Eingangs unterschiedlicher Disziplinen (von der Astrologie, abgelöst durch die Astronomie, der Alchemie – gefolgt von der Chemie, der Anatomie, seit Mitte des 19. Jahrhunderts ergänzt durch die Physiologie, Hirnforschung und Psychologie, der Geschichtswissenschaft, der Anthropologie, der Mechanik, der Physik, bis hin zur Relativitätstheorie oder zur Quantenmechanik etc.) geht es immer auch um die Einsicht in die Historizität von Wissen, um Fragen der Wissensbeglaubigung und -geltung, aber auch des Verfalls einstmals unfraglicher Ein- oder vielmehr Ansichten, um Wahrheitsansprüche, Wissensdiskurse und wissenschaftsgeschichtliche Infragestellungen. So spricht etwa Thomas S. Kuhn vom „Paradigma“, einem exemplarischen Experiment, das einmal wiederholt und bestätigt, zum Modell werden und so eine Forschungsrichtung anregen, schließlich eine Epoche prägen kann. Ludwik Fleck sprach vom „Denkstil“, der in einem „Denkkollektiv“ Probleme ebenso wie Wahrhaftigkeitsansprüche erst geltend macht, oder von der gemeinschaftlichen, richtungsweisenden „Stimmung“ im Kollektiv. Michel Foucault benennt „Episteme“ als subjektive unbewusste Parameter, die handlungsleitend sind, und spricht von vergangenen Forschungsständen als „historischem a priori“ einer diskursiven Praxis, während bei Hans Blumenberg von einer zu einer bestimmten Zeit vorherrschenden „Weltanschauung“ die Rede ist. Diesen entsprechen jeweils bestimmte Voraussetzungen, die zu Ermöglichungsbedingungen von Denken, Forschen und Handeln einer historisch zu einer bestimmten Epoche avanciert sind und so, folgt man Foucault, auch, wenn sie überholt sind, wie Sedimentschichten späteren, auch unseren Diskursen unterliegen – fassbar vor allem in der Sprache, gesteigert im poetischen Sprechen und Schreiben. Literaturwissenschaftlich lässt sich das Spannungsfeld von Literatur und Wissen poetologisch und narratologisch, begriffsgeschichtlich, diskursanalytisch oder kulturwissenschaftlich vermessen. Literaturforschung nimmt damit Teil an jener Archäologie des Wissens, die historisch über die Grenzen der jeweiligen Fach- und Disziplinengeschichten hinausgreift. Um Produktion, Zirkulation und die beständige Transformation von Wissen zu erfassen, werden Texte und Bilder wissenspoetologisch, wissenshistorisch und -kritisch sowie epistemologisch analysiert.

Beispiele für entsprechende Untersuchungen finden sich in dem von Friederike Reents und Ralph Müller herausgegebenen Band Lyrik und Erkenntnis  (= Bd. 1, Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik, Trier 2019. Weitere Fallstudien sind zu finden in dem Band Antike Lyrik Heute. Zur Präsenz griechischer und römischen Lyrik in deutschsprachiger Lyrik und Altphilologie der Gegenwart, hg. v. Kai Bremer, Stefan Elit und Friederike Reents, (Paderborn, Gardez 2010) und in das Handbuch Umwelt interdisziplinär. Grundlagen – Konzepte – Handlungsfelder, hg. u.a. von Friederike Reents (HeiUp, Heidelberg, 2022 und später). Eine wissen(schaft)shistorische Studie wurde als Kapitel „Wissenschaftliche Kontexte und Diskurse“ im Benn-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Christian M. Hanna und Friederike Reents (Stuttgart, Metzler, 2016, S. 51–69) vorgelegt. Einen interdisziplinären Podcast zum Thema „Literatur des Anthropozäns. Fakten, Fiktionen, Visionen“ mit Friederike Reents, Ulrike Gerhard (Humangeographin) und André Butz (Umweltphysiker) finden sie hier. 

Im Bereich dieses Forschungsfeldes wurden bzw. werden zur Zeit folgende Lehrveranstaltungen angeboten:  „Es war einmal...“. Das Märchen der Romantik (Seminar, SoSe 2022); Lyrik im Museum (Forschungsseminar SoSe 22), zus. mit Sabine Scho und dem Jura-Museum; Historiendichtung – zwischen Fakten und Fiktion (Vorlesung, WiSe 23/24); „O schaurig ist`s übers Moor zu gehn“— Das literarische Moor als historischer Speicher“ (Seminar, WiSe 23/24).