Emotion

Emotion
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Da menschliches Bewusstsein ohne emotionale Grundierung nicht denkbar ist (Russell 2003), kann auch Literatur ohne Aspekte des Emotionalen weder produziert noch rezipiert werden. Und doch ist es überraschend, mit welcher Kraft die unter dem Fiktionalitätspakt stehende Literatur reale Gefühle bei Leser:innen hervorrufen kann. Die Welt der Gefühle, Emotionen, Affekte und Stimmungen (dazu s.u.) stellt die Literaturwissenschaft seit den 1990er Jahren vor eine neue Herausforderung: Es geht nicht mehr nur darum, äußere Bildwelten zu versprachlichen und zu deuten, sondern auch die innere, emotionsinduzierte Bilderflut mit Theorien etwa aus der Emotionspsychologie, der Kognitionswissenschaft oder der Neuropsychologie wissenschaftlich lesbar und so begreifbar zu machen „emotional turn“ (Thomas Anz). Diesen jüngeren naturwissenschaftlichen Disziplinen stehen jedoch ältere Traditionslinien des Affektdenkens aus Rhetorik und Poetik, des Moralismus sowie etwa im 20. Jahrhundert auch der Psychoanalyse und des Existenzialismus gegenüber. In diesem skizzierten Feld aus tradierten und innovativen Zugängen verschiedener Disziplinen bewegt sich die Literaturwissenschaft nach dem „emotional turn“.

Anders als Stimmungen sind Emotionen und Affekte Gefühlszustände stärkerer Intensität, sie gelten als sehr variabel und kürzer andauernd, sie haben einen klaren Bezug zu einem Auslöser und sind meistens auf ein bestimmtes Objekt gerichtet. Zugleich aber entziehen sie sich der Vernunftkontrolle. Im Aushandlungsfeld von Literatur und Emotion finden sich sehr unterschiedliche Themen, Zugriffe und Dimensionen, wie etwa eine entlang der Geschichte des Emotionsdenkens und -wissens, die sich aus der jeweiligen Gattung begründen lässt oder vielleicht auch die Wahl der Gattung begründet haben. So finden wir Enthusiasmus in der Hymne (z.B. bei Johann Wolfgang von Goethe), Trauer in der Elegie (bei Rainer Maria Rilke), Schuld in der Tragödie (im bürgerlichen Trauerspiel bei Gotthold Ephraim Lessing), Angst im Kunstmärchen (bei E.T.A. Hoffmann), Glück in der Idylle (Adalbert Stifter) bzw. das Grauen in der Anti-Idylle (Thomas Kling), Hoffnung in der Utopie (Thomas Morus) bzw. Hoffnungslosigkeit in der Dystopie (Juli Zeh), Ekel in der Groteske (Elfriede Jelinek) – aber auch Trauma und Affektabspaltung in der Literatur des Holocaust (Jean Améry, W.G. Sebald).  

Beispiele für wissenschaftliche Beiträge aus dem Forschungsfeld sind die Handbuchartikel „Lyrik und Emotion“ von Friederike Reents, in: Handbuch Lyrik . Theorie, Analyse, Geschichte, hg. v. Dieter Lamping (Stuttgart, Metzler 2016, 2., ergänzte Neuauflage, S. 169–178) sowie, ebenfalls von Friederike Reents: „Trauma“, in: Herta Müller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Norbert Otto Eke (Stuttgart, Metzler 2017, 227-235). Weiterhin von Friederike Reents: „Kann eine Trauer sein – Gottfried Benns poetische Schadensabwicklung", in: Figurationen der Moderne, hg. v. Carsten Dutt und Roman Luckscheiter (Heidelberg, Winter 2007), S. 293–308.

Stimmung

Stimmung
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Die ästhetisch-literarische Kategorie der „Stimmung“ nimmt eine besondere Stellung im Rahmen des um die Jahrtausendwende beobachtbaren „emotional turn“ (Thomas Anz) ein. Anders als Gefühle und Affekte stammt der Begriff „Stimmung“ ursprünglich aus einem musikästhetischen Zusammenhang und erfuhr erst später seine ihm heute primär zugeschriebene, psychologische, aber auch existenzphilosophische Konnotation. Doch schon um 1800 wie auch um 1900 gab es Verdichtungen des „Stimmungs“-Diskurses. Während an der Schwelle zum 19. Jahrhundert Immanuel Kant als Inaugurator der von Friedrich Schiller dann ausdifferenzierten Stimmungsästhetik gelten musste und die Romantiker geradezu Stimmungskunst betrieben, lassen sich in der Literatur um 1900 entsprechende Diskurse bei Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und vor allem bei Vertreter:innen der Wiener Moderne beobachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Tiefpunkt des Diskurses zu beobachten, der erst um 2000 durchschritten war und sich von da an nicht nur im wissenschaftlichen Gespräch, sondern auch in der Gegenwartsliteratur, wie etwa im Werk von Wolfgang Herrndorf, wiederfindet.

Eine exemplarische wissenschaftliche Arbeit über ästhetische Stimmungen ist die Habilitationsschrift von Friederike Reents Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert (2015). Weitere Beiträge zu dem Thema finden sich in dem von Friederike Reents und Burkhard Meyer-Sickendiek herausgegebenen Sammelband Stimmung und Methode (2013). Zur Stimmung als ästhetischer Kategorie gibt es einen englischsprachigen Aufsatz von Friederike Reents: „Stimmung as an Aesthetic Category: On Influx & Efflux“. In. Modern Language Notes. Comparative Literature Issue, vol. 137, no. 5 (2022), p. 1042-1047, https://doi.org/10.1353/mln.2022.0075.