Literarisches Übersetzen ist, anders als etwa das Übersetzen von Sachtexten, ein multidimensionaler kommunikativer Prozess, der die semantische, stilistische und kulturelle Übertragung von Texten zwischen Sprachen umfasst. Auf linguistischer Ebene erfordert der Übersetzungsvorgang von den Übersetzer:innen ein tiefgreifendes Verständnis sowohl der Ausgangs- als auch der Zielsprache, um die Bedeutung semantischer und syntaktischer Einheiten sowie die subtilen Nuancen lexikalischer Zwischenräume zu erfassen. Die Bedeutung der literarischen Übersetzung geht jedoch weit über die bloße Sprachübertragung hinaus. Sie ermöglicht den Zugang zu Werken anderer Kulturen und trägt zur weltweiten Verbreitung von Ideen bei. Die Praxis des literarischen Übersetzens im deutschsprachigen Raum ist eng mit bedeutenden Persönlichkeiten der Übersetzungswissenschaft wie Martin Luther (Bibelübersetzung), Friedrich Schleiermacher (Übersetzung philosophischer Texte) und Wilhelm von Humboldt (Übersetzung künstlerischer Texte) verbunden.
Von entscheidender Relevanz ist die Fähigkeit des Übersetzers/der Übersetzerin, den kulturellen Kontext des Ausgangswerkes zu interpretieren und durch kreative Lösungen so in die Zielsprache zu integrieren, dass keine bloße fremdsprachliche Kopie entsteht, sondern das Werk „wie Scherben als Bruchstücke eines Gefäßes“ (Walter Benjamin) seine Eigenart bewahrt. Im Bemühen um eine adäquate Wiedergabe des Originals in der Zielsprache stehen die Übersetzer:innen u.a. vor der grundsätzlichen Entscheidung vor der Grundsatzentscheidung zwischen sogenannter domestizierender (adaptierender, an der Zielkultur orientierter) und verfremdender (die Andersartigkeit des Originals erhaltender) Übertragung, die unmittelbar mit dem Gegensatz zwischen ‚freier‘ und ‚originalgetreuer‘ Übersetzung zusammenhängt: „Entweder läßt der Uebersezer den Schriftsteller möglichst in Ruhe und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ (Friedrich Schleiermacher).
Die Praxis des Übersetzens ist ein integraler Bestandteil des künstlerischen Oeuvres zahlreicher Autor:innen, aber auch Literaturwissenschaftler:innen. Mittels der Übersetzung schlagen Schriftsteller:innen Brücken zwischen den Kulturen, fördern den globalen Dialog und können gleichzeitig ihre eigene künstlerische Stimme weiterentwickeln, um ihr Schreiben auf einer internationalen Ebene zu verankern. Ein herausragendes Beispiel für eine zeitgenössische Schriftstellerin, die sich nicht nur durch ihr eigenes literarisches Werk, sondern auch durch ihre Tätigkeit als Übersetzerin auszeichnet, ist Uljana Wolf. Ihre Arbeit illustriert eindrucksvoll, wie die Praxis des Übersetzens nicht nur als Mittel dient, Werke aus verschiedenen Kulturen zugänglich zu machen, sondern auch als kreativer Prozess, der die Perspektiven der Übersetzer:innen erweitert, ihr eigenes dichterisches Schaffen prägt und die kulturelle Vielfalt innerhalb der Literatur hervorhebt. Wolfs Gedichtübersetzung aus unterschiedlichen Sprachen finden Sie hier.
In ihrer Monographie Paul Celan in Russland. Rezeption – Übersetzung – Wirkung, die im Jahr 2022 bei Springer erschienen ist, setzt sich Alexandra Tretakov mit Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Übersetzung auseinander.
Ein exemplarischer wissenschaftlicher Beitrag, der sich mit verschiedenen Übersetzungen eines poetischen Textes beschäftigt, ist der Aufsatz „Übersetzung als Dialog. Zwei russische Varianten der ‚Todesfuge‘“ von Alexandra Tretakov aus dem Sammelband Close Reading – Distant Reading: Spannungsfelder der slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaften, hrsg. von Iris Bauer, Yvonne Drosihn et al. (Saale, 2019, S. 97–116) dx.doi.org/10.25673/36970
Ein Beispiel für einen wissenschaftlichen Artikel über die Rolle des/der Übersetzers/Übersetzerin ist der Beitrag „Anna Glazova as Celan Translator“ von Alexandra Tretakov aus dem Konferenzsammelband Contemporary Translation in Transition: Poems, Theories, Conversations, hrsg. von Maria Khotimsky, Friederike Reents, Henrieke Stahl und William Waters. (Academic Studies Press, erscheint 2024).
Das Gedicht Die zweite Person Ich von Yoko Tawada ist ein anschauliches Beispiel für literarische Vielfalt und den kulturellen Austausch durch Übersetzungen. In diesem Fall wurde das Gedicht in verschiedene Sprachen übertragen, darunter Englisch, Französisch, Norwegisch und Russisch.
Als ich dich noch siezte,
sagte ich ich und meinte damit
mich.
Seit gestern duze ich dich,
weiß aber noch nicht,
wie ich mich umbenennen soll.
Back when you were still a Sie
I said I, meaning
me.
Yesterday you became a du
but I still don’t know
What to change my name to.
Translated by Susan Bernofsky
Du temps que je te vouvoyais
je disais je en parlant de
moi.
Depuis hier je te tutoie,
mais je ne sais pas encore
comment moi me désigner autrement.
traduit par Bernard Banoun
Da jeg fortsatt sa De til deg,
Sa jeg jeg og mente
meg.
I går begynte jeg å si du til deg,
men vet ennå ikke
hvordan jeg skal omdøpe meg.
Oversatt av Arild Vange
Когда я еще была с тобой на Вы,
я говорила я и имела в виду
себя.
Вчера я перешла с тобой на ты,
но еще не знаю,
как мне теперь себя называть.
Translated by Vera Kurlenina
Im Bereich dieses Forschungsfeldes wurde folgende Lehrveranstaltung angeboten: „Aber das Gedicht spricht ja!“ Eine Begegnung mit Paul Celan (Seminar, SoSe 2022)