Aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des Tschechoslowakischen Staates am 28.10.2018 luden das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport der Tschechsischen Republik in Zusammenarbeit mit der Universität der Technischen Universität Liberec/CZ, dem Nationalen Pädagogishen Comenius - Museum Prag und der PH Zürich Pädagogen und Erziehungswissenschaftler*innen aus Europa ein. Die Einladung stieß auf großes Interesse, es kamen Vertreter der Universitäten aus Baku/Aserbeidschan, aus Belgien, Bosnien, Deutschland, Kroatien, Mazedonien, Schweiz, Serbien, Slowakei, Österreich, Polen und Ungarn. Die Tagung fand im prachtvollen Senatssaal des Waldsteinpalais und im Comenius - Museum in Prag statt. In Sektionen in englischer, deutscher und tscheschicher Sprache sowie einer Gruppe für tschechische Sprache trafen sich 42 Wissenschaftler*innen, die die jeweiligen Perspektiven der verschiedenen Herkunftsländer diskutierten.
1918 war das Jahr großer Zusammenbrüche und radikaler politisch-gesellschaftlicher Umgestaltung in Europa. Das russische Zarenreich war bereits 1917 in den Wirren der bolschewistischen Revolution untergegangen, das Ende des 1. Weltkrieges 1918 beendete auch das deutsche Kaiserreich und die habsburgische Donaumonarchie. Grenzen wurden neu definiert, Länder verschwanden, wurden aufgeteilt unter anderen Machthabern, neue Staaten entstanden. Wirtschaftliches Elend und gesellschaftliche Desorientierung führten zu fundamentalen Erschütterungen im Lebensgefühl der Menschen und beförderten Heilsutopien und umfassende Erlösungshoffnungen. In diesem Lebensgefühl, das durch den Aufschwung in den 1920er Jahren an Dynamik gewann, fande Bewegungen wie Lebensreform, Jugendbewegung und Reformpädagogik zahlreiche Anhänger. Deren Programmatik, vorgetragen mit großer Emphase und Pathos, förderten Versprechen, ein Neues Europa durch eine Neue Bildung und Neue Schule zu bauen und, noch weiter ausgreifend, eine neue Gesellschaft, eine neue Menschheit zu bilden. Reformpädagogische Modelle fielen, ungeachtet ihrer sehr disperaten Ausformungen, auf fruchtbaren Boden. Prägend für diese Dynamik waren Vertreter*innen, deren Sendungsbewusstsein als „grandiose Erkenntnissubjekte“ (vgl. Skiera, Erziehung und Kontrolle, 2018) sie veranlasste, Heil für Gesellschaft, Menschheit und Kosmos zu verheißen. Ellen Key, Maria Montessori, Rudolf Steiner oder Peter Petersen u.a. konnten in diesen Um- und Aufbruchszeiten mit dankbarer Resonanz rechnen. Die Grenzen zwischen Lebensreform, an der sich auch Gustav Wyneken eifrig beteiligte, Jugendbewegung und Reformpädagogik waren durchlässig und beeinflussten sich gegenseitig, sei es adaptiv oder negativ.
Beate Klepper/Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt
Neuerscheinung
Klepper Beate (2018): "Ich erlöse den Menschen der Zukunft." Zeitperspektiven bei Maria Montessori und Rudolf Steiner. In: Alexander Maier, Anne Conrad, Jean-Marie Weber und Peter Voss (Hg.): Lernen zwischen Zeit und Ewigkeit. Pädagogische Praxis und Transzendenz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, Julius (Historische Bildungsforschung), S. 93–114.
Abstract
Eine Analyse von Zeitstrukturen erfolgt eher im Bereich schulischen Lernens und didaktischer Reflexionen. Dort ist Zeit dann eher ein quantitatives Problem oder wird im Sinne von Steigerung der Effizienz thematisiert. Die folgenden Ausführungen belegen den transzendentalen Anspruch Montessoris und Steiners aufgrund der Analyse der zugrundeliegenden Zeitkonzepte, weisen auf pädagogische Konflikte hin. Letztlich überspringen beide Autoren, Montessori und Steiner die Individualität und Eigenständigkeit des Kindes zugunsten eines Erziehungszieles, das kosmisch umfassend und welterlösend, aufgeklärtes pädagogisches Handeln weit hinter sich läßt. Hans Blumenbergs Analyse von Lebenszeit und Weltzeit schärfen diesen Konflikt und Hermann Schmitzs phänomenlogischer Blick weist Wege aus diesem Dilemma der Verleugung des Subjekts. Dieser Beitrag skizziert Grundlinien für erziehungswissenschaftliches Denken, das neue Antworten auf die dargelegten Probleme formuliert.
Flyer vom Klinkhardt-Verlag ....