von Philipp Endres
#Papst #HagiaSophia #Symbolpolitik
Manchmal entsteht Bedeutung weniger durch das, was sichtbar getan wird, als durch das, was bewusst unterlassen bleibt. Der Reiseplan von Papst Leo XIV. in die Türkei und den Libanon zeigt dies mit besonderer Klarheit. Unter den vielen Orten, die er aufsucht, fällt vor allem jener ins Gewicht, den er nicht betritt: die Hagia Sophia. Auf die naheliegende Frage, warum der Papst diesen symbolträchtigen Ort meidet, antwortete der vatikanische Sprecher Matteo Bruni lapidar: „Es stand einfach nicht auf dem Programm.“ Gerade ihre unaufgeregte Nüchternheit macht die Aussage bemerkenswert. Sie verweigert jede inhaltliche Begründung und erzeugt damit einen Raum, in dem die Deutung offengehalten wird.
In der diplomatischen Sprache des Vatikans sind solche Formulierungen selten rein sachbezogen. Die Lakonie verschiebt den Diskurs weg von theologischen oder geopolitischen Großinterpretationen und rahmt die Entscheidung als organisatorische Episode. Ihre eigentliche Funktion liegt gerade in dieser Unterdeterminierung: Wer nichts sagt, legt sich nicht fest, eröffnet aber einen Resonanzraum, in dem andere Stimmen die Leerstelle füllen. Die Antwort vermeidet eine explizite Stellungnahme zur erneuten Umwidmung der Hagia Sophia, markiert zugleich aber, dass der Heilige Stuhl sich der Symbolschwere des Ortes bewusst ist.
Um die Tragweite der Entscheidung zu verstehen, muss man die über Jahrhunderte gewachsene symbolische Dichte der Hagia Sophia in den Blick nehmen. Sie ist nicht nur ein Sakralbau, sondern ein Erinnerungsraum von globaler Bedeutung. Seit ihrer Weihe im Jahr 537 fungiert sie als räumliche Matrix kollektiver Imaginationen. Für Byzanz war sie das theologisch-politische Zentrum des Imperiums, ein architektonisch geronnenes Bild kosmischer und kaiserlicher Ordnung. Für die orthodoxe Welt blieb sie über die Jahrhunderte ein Verlustort, in dem sich die Narben des Jahres 1453 eingeschrieben haben. Für den osmanischen Islam wurde sie zur Eroberungssignatur, zum sichtbaren Zeichen imperialer Kontinuität. Für die kemalistische Republik stand sie seit 1934 als Museum für das Programm nationaler Modernisierung und als Manifest für die Trennung von Religion und Staat. Für die heutige Türkei schließlich dient sie als Projektionsfläche eines religiös-nationalen Selbstverständnisses, das historische Triumphe und moderne Souveränität miteinander verschränkt.
Die Rückumwandlung von 2020 markiert in diesem Gefüge einen Kulminationspunkt symbolpolitischer Inszenierung. Die Schritte waren sorgfältig choreografiert. Dass der Staatsrat das Museumsgesetz um 14.53 Uhr aufhob, verweist unverkennbar auf das Jahr der Eroberung Konstantinopels. Dass das erste Freitagsgebet am Jahrestag des Vertrags von Lausanne stattfand, bindet die Entscheidung in eine Erzählung ein, die als Überwindung westlich auferlegter Begrenzungen gelesen wird. Erdoğan verknüpft religiöse und nationale Codes zu einem Narrativ der Wiederaufrichtung, in dem die Hagia Sophia zum Schauplatz einer symbolischen Kampfansage an den Westen wird.
Kaum ein anderes Gebäude verdichtet so viel historische Energie. In dieser Perspektive ist die Hagia Sophia nicht nur ein Bauwerk, sondern ein Palimpsest konkurrierender Erinnerungsregime. Entsprechend scharf fielen 2020 die Reaktionen auf die erneute Umwandlung in eine Moschee aus. Auch Papst Franziskus reagierte: „Ich denke an Sankt Sophia, und ich bin voller Schmerz.“ Der Satz war nicht als diplomatische Protestformel formuliert, sondern als Ausdruck persönlicher Betroffenheit. Er signalisierte, dass hier ein Ort berührt wurde, der für die christliche Welt nicht nur als architektonisches Erbe, sondern als Erinnerungsraum von überkonfessioneller Bedeutung gilt.