Bericht aus dem Forschungssemester in Lateinamerika

Im Rahmen seines Forschungssemesters bereist der Lehrstuhlinhaber, Martin Kirschner, derzeit verschiedene Länder Lateinamerikas. Auf der Homepage werden wir in unregelmäßigen Abständen Berichte, Veranstaltungshinweise und Kommentare mit Erfahrungen dieser Reise veröffentlichen.

arrow right iconIm ersten Teil der Reise besuchte Martin Kirschner mit einer Gruppe des Stipendienwerks Deutschland-Lateinamerika e.V. (ICALA - https://www.icala.de/deutsch/icala/) die Katholische Universität von Córdoba (Argentinien), die Universidad Nacional de San Martín und die Katholische Universität in Buenos Aires sowie die Katholische Universität von Uruguay in Montevideo. Zu der Gruppe gehörten die Präsidentin von ICALA, Prof. Dr. Margit Eckholt (Universität Osnabrück), die Leiterin des Lateinamerikareferats des Katholischen Akademischen Ausländer-Dienstes, Dr. Mirjam Rossa, sowie seitens der Geschäftsstelle von ICALA Frau Nicola Götzl und Herrn Johannes Bausenhart. In Buenos Aires und Montevideo kam Prof. Dr. Michael Seewald (Universität Münster) hinzu, der sich ebenfalls mit zwei Vorträgen an den Begegnungen beteiligte. Die Tagung in Córdoba zum Thema „Demokratie, Synodalität, Geschlechtergerechtigkeit“ war verbunden mit einem Treffen der Vorsitzenden der 16 regionalen Beiräte von ICALA sowie des Frauenförderprogramms und des Programms zur Förderung der wissenschaftlichen Reflexion indigener Kulturen und Traditionen.

In seinem Vortrag in Córdoba deutete Kirschner die planetare ökologische Krise, die Erosion der Demokratie, die Militarisierung Europas und die eskalierende Gewalt bis hin zum Grauen in Gaza als Teil eines epochalen Wandels, der das Ende der Hegemonie einer kolonialen Moderne markiert. Die reale Gefahr einer ökologischen oder nuklearen Zerstörung der Lebensgrundlagen des Planeten und einer transnationalen oligarchischen Herrschaft stelle vor die enorme Herausforderung, den Übergang in eine multipolare, dezentrale, partizipative, ökologisch gerechte und postkoloniale Weltordnung zu gestalten. Dazu brauche es eine „Demokratisierung der Demokratie“, welche die blinden Flecken und die Schattenseiten der liberalen Moderne bearbeitet. In der Wendung der katholischen Kirche zur Synodalität erkennt Kirschner ein Hoffnungszeichen, insofern hier Prozesse einer partizipativen, interkulturellen und dialogischen Verständigung wie in einem „Laboratorium“ erprobt werden. Dabei geht es nicht um eine innerkirchliche Selbstbespiegelung, sondern um einen Beitrag zu einer religiösen und auch politischen Kultur, der über die Grenzen der katholischen Kirche hinausführt. Die Bereiche der verschiedenen Religionsgemeinschaften, der Zivilgesellschaft und der Politik können dabei nicht voneinander getrennt werden, insofern die globale Situation eine „integrale Umkehr“ bzw. „große Transformation“ verlange, die mit der politischen und ökonomischen auch eine geistliche und kirchliche Dimension umfasst. Während technokratische Strategien oder gewaltsame Revolutionen die Gewaltstrukturen lediglich unter anderen Vorzeichen reproduzieren, ist eine „Transformation von innen“ nur in Verbindung mit einem Prozess geistlicher Erneuerung möglich.

arrow right iconBei der Tagung „Universal, Particular, Singular. Decolonización o recolonización?” an der Universidad Nacional de San Martín (UNSAM) in Buenos Aires konkretisierte Kirschner diese Perspektiven im Sinne eines „Universalismus von unten“, welcher der Versuchung widersteht, die eigene Position als universale Wahrheit anderen aufzudrängen und stattdessen auf Prozesse des Dialogs, der Begegnung, des interkulturellen Lernens und partizipativer Entscheidungsprozesse setzt. Einer „Synodalisierung der Kirche“ in ökumenischer Perspektive wie einer „Demokratisierung des Politischen“ in nationalen, aber auch in supranationalen und globalen Kontexten kommt dabei eine Schlüsselbedeutung zu, was nicht ohne Überwindung der ungleichen Machtverteilung, der oligarchischen Strukturen in Wirtschaft, (bes. digitalen) Medien und Politik, klerikaler und autoritärer Strukturen und Kulturen in der Kirche sowie einer Etablierung neuer „checks and balances“ im kirchlichen wie politischen Bereich möglich ist.

Universelle Ansprüche sind dann nicht als Universalisierung einer bestimmten partikularen Kultur – der europäischen oder nordatlantischen, von „liberalen“ oder „traditionalen“ Werten – zu denken, auch nicht als Universalisierung einer „römischen“ Gestalt von Katholizismus. Vielmehr folgen sie aus der Universalität einer planetaren Verantwortung, die im Konkreten und Singulären, im hier und jetzt meiner begrenzten Perspektive übernommen werden muss. Diese Verantwortung ist einerseits persönlich und individuell, kann andererseits nur gemeinsam, in streitbarer Kommunikation und kritischer Kooperation realisiert werden, wobei den bislang ausgeschlossenen Perspektiven Vorrang zukommen muss, denn nur so öffnet sich der Blick auf das Ganze und auf das Allgemeinwohl.

Der christliche Glaube stellt solche Verantwortung in die Perspektive eines Gottes, der als Gott aller Menschen zugleich Richter und Quelle von Hoffnung auf Rettung und Heil ist – gerade und zuerst für die Toten und Verlierer, die Opfer und Überlebenden, die Armen und Marginalisierten dieser Welt. Eine christliche Spiritualität muss sich darin bewähren, solche konfliktreichen Kommunikationsprozesse an das Zeugnis des Kreuzes zurückzubinden und damit in den Horizont einer unbedingten Liebe Gottes zu stellen, die an der Seite der Opfer steht und zugleich auch den Fremden, den Sündern und Feinden gilt. Die Bewährungsprobe christlichen Glaubens besteht gerade in der heutigen Situation nicht primär in einer kirchlichen Selbstbehauptung, sondern in der Verausgabung für das Evangelium. Diese spitzt sich im Wagnis zu, auch noch im Feind den von Gott geliebten Menschen zu erkennen und einer Logik des Gruppendenkens zu widerstehen, die Spiralen von Gewalt und Aufrüstung zu unterbrechen, immer wieder neu auf Diplomatie und Dialog zu setzen. Kirche und Politik im globalen Norden und speziell im heutigen Deutschland können hier viel von den Bewegungen im globalen Süden lernen, die in einem Kontext von Gewalt, Missachtung und Ausbeutung schon lange Formen des Widerstands, des Überlebens und guten Lebens entwickeln mussten.

In diesem Sinn versteht Kirschner seine Reise als eine Möglichkeit zur Vernetzung, als Prozess des Lernens und auch als Weg einer persönlichen Umkehr, um die akademische Arbeit entschiedener an den Erfordernissen der Zeit auszurichten und in Konflikten klarer Position zu beziehen.

arrow right iconDie dritte Tagung fand an der Theologischen Fakultät der Universidad Católica Argentina (UCA) in Buenos Aires statt. An diesem auch mit Papst Franziskus verbundenen Ort galt die Tagung der Erinnerung der Anfänge des Stipendienwerks: 60 Jahre nach dem Konzil wurden die Begegnungen von Bernhard Welte, Peter Hünermann, Lucio Gera und Carmelo Giaquinta erinnert – und auf ihre Relevanz für die Gegenwart und die Konstruktion der Zukunft hin befragt. Ein Bericht findet sich hier: https://uca.edu.ar/es/noticias/conferencia-internacional-vigencia-de-un-legado-memoria-de-un-encuentro-en-la-uca

Die Vorträge sind auch auf Youtube abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=YiMpEar6GBk

Der Vortrag von Kirschner zeichnete den Denkweg von Peter Hünermann als eine immer konsequentere Hinwendung zu einem geschichtlichen Denken, zur Performativität des Glaubens und zu den damit verbundenen Strukturen kirchlicher Kommunikation nach. Das Ereignis der Begegnung von Gott und Mensch wird in den vielfältigen Zeugnissen der Menschen, in der sakramentalen Vermittlung der Kirche und in einer auf die Welt und alle Menschen geöffneten Kommunikation des Evangeliums greifbar. Kirschner plädiert daher dafür, das Gefüge der verschiedenen Erkenntnisorte der Theologie (Loci theologici) in die Kommunikationsstrukturen synodaler Kommunikation zu übersetzen. Synodalität meint dabei nicht einen „technischen“ Spezialbereich kirchlichen Lebens, sondern bezeichnet die Lebens- und Handlungsform von Kirche (den „modus vivendi et procedendi“, wie die Dokumente zur Synodalität es immer wieder formulieren). Es geht um den Vollzug der lebendigen Tradition des Glaubens in der Gegenwart, um die gläubige Bearbeitung von Konflikten in kollektiven Prozessen geistlicher Unterscheidung, um eine Deutung der Zeit im Licht des Evangeliums und um das verbindliche Treffen von Entscheidungen im Kontext der Glaubensgemeinschaft.

Dabei kommt es – so Kirschner – darauf an, die „eigenen“ und „fremden“ Orte theologischer Erkenntnis, also die innerkirchliche Verständigung und ihre Autoritäten wie die öffentliche Verständigung, ihre Erkenntnisorte und Autoritäten, enger als bisher aufeinander zu beziehen, ohne den Unterschied zwischen ihnen einzuebnen. Ein entscheidendes Gewicht kommt jedoch einer dritten Kategorie von Orten zu, die nicht in das Schema des „Eigenen“ oder „Fremden“ passen, weil in ihnen der Glaube mit der Autorität Gottes und der Gegenwart Christi im Leidenden Anderen konfrontiert wird, was die Unterscheidung von Fremdem und Eigenem unterbricht, insofern der ganz andere mit einer Pflicht konfrontiert, an der sich die eigene Identität entscheidet. Kirschner nennt diese Orte „messianische“ Orte der Theologie. Anknüpfend an biblische Schlüsselstellen wie Gen 4,9f. (das Blut Abels, das zum Himmel schreit), Ex 3,7 (Gott hört die Schreie seines Volkes), Lk 10,25-37 (Gleichnis vom Samariter) sowie die große Gerichtsrede in Mt 25,31-46 (Identifikation Christi mit den Geringsten, das Handeln an ihnen als Kriterium des Gerichts) und in Aufnahme der Theologie von Leonardo Boff wird in der lehramtlichen Verkündigung von Papst Franziskus das „Hören auf den Schrei der Armen und der Erde“ zum Ausgangspunkt und zum durchgängigen Kriterium synodaler Prozesse. Solche „messianischen Orte“ konfrontieren in der Begegnung mit Menschen, die Unrecht und Ausgrenzung erleiden, im Hören auf die Stimme der Opfer und Überlebenden von Missbrauch und Gewalt – auch in der Kirche – mit der Notwendigkeit einer Umkehr. In ihr erschließt und bewährt sich die befreiende und heilende Kraft des Evangeliums. 

Eine besondere Herausforderung des Glaubens bilden in dieser Perspektive die Ereignisse in Gaza. Gerade die deutsche Kirche hat in einem schwierigen und unabgeschlossenen Prozess der Erinnerung, des Lernens und der Umkehr begonnen, die Gegenwart als eine Zeit „nach Auschwitz“ zu begreifen: Angesichts der Verbrechen der Schoa kann christliche Theologie von Gott nur Zeugnis geben, wenn sie das Evangelium und den Glauben im Angesicht der Opfer und im Dialog mit dem Judentum versteht. Die Herausforderung der Gegenwart liege darin, die mit der Schoa verbundene Erinnerung und Verpflichtung im Angesicht von Gaza neu und in einer nochmals radikaleren Umkehr zu vollziehen, welche sich den Verbrechen kolonialer Gewalt stellt, die Auschwitz vorbreitet haben und bis in die Gegenwart reichen: Das Hören auf den Schrei der anderen kann nicht selektiv erfolgen, das Leiden der einen nicht durch das der Anderen relativiert, erst recht nicht gegeneinander ausgespielt werden. In Solidarität mit den vielen mutigen jüdischen Stimmen, die weltweit und in Israel mit hohem persönlichem Risiko sagen „Nicht in unserem Namen!“ stelle sich die Herausforderung, die Erinnerung der Schoah mit der Kritik kolonialer Gewalt und dem Hören auf den Schrei von Gaza zu verbinden, damit das „Nie wieder!“ allen gilt. Zur Herausforderung des Dialogs mit einem Judentum tritt dann die Herausforderung eines Dialogs mit dem Islam, der allzu oft als identitätsstiftendes Feindbild des Westens missbraucht werde. Erforderlich sei aber auch, einen Dialog mit den indigenen Traditionen und Völkern aufzunehmen, deren Land, Identität und Kultur bis in die Gegenwart kolonialer Gewalt, Aneignung und Zerstörung ausgesetzt sind. Die Amazonassynode hat hier laut Kirschner ein wichtiges Signal gesetzt, das die synodalen Prozesse insgesamt prägen muss.

arrow right iconDer Besuch in Uruguay führte nochmals in einen anderen Kontext, insofern Kirche und Theologie hier mit einer hochgradig laizistischen, kirchenkritischen Politik konfrontiert sind und innerkirchlich oft eher das Aufrechterhalten kirchlichen Lebens als die befreiungstheologische Option für die Armen und Ausgegrenzten im Vordergrund steht. Nach Vorträgen von Sebastián Pinazzo, Michael Seewald und Margit Eckholt zum Konzil von Nizäa ergaben sich hier wertvolle Diskussionen, welche sowohl das Verständnis der Tradition wie den aktuellen Kontext der Kirche in Uruguay berührten. Kirschner hielt hier keinen eigenen Vortrag, nutzte jedoch die Gelegenheit, um sich im Gespräch mit Dr. Richard Arce über den Stand der Ausbildung von Ständigen Diakonen zu informieren und hier mögliche Kooperationen eruieren. Sehr beeindruckend war darüber hinaus die künstlerische Gestaltung von Kapelle, Kirche und Treppenhaus der Katholischen Universität von Uruguay (UCU).