…Jesús war heute mein Surflehrer, hier an der Pazifikküste und er hat mir eine Lektion über Vertrauen erteilt. Er hat mich heute zum ersten Mal ins „blaue Wasser“ geführt, also dorthin, wo die großen Wellen brechen und kein Boden mehr unter den Füßen zu finden ist: mit einem großen, schweren Surfbrett, das leichter zu reiten ist, aber nicht einfach zu handhaben. Jesús hat mich dabei zwar begleitet, nach mir geschaut, aber mich auch immer wieder hart alleine gelassen, wenn er eine Runde selbst gesurft ist. Dann musste ich alleine mit den Wellen klarkommen. Wie sein Namensvetter aus Nazareth hat er mich damit gehörig aus der Komfortzone herausgeführt und mein Vertrauen, meine Ausdauer und Kraft auf die Probe gestellt. Und wie Petrus hätte ich mich gerne von der Welle tragen lassen. Um es knapp vorwegzunehmen: Es ist mir nicht gelungen, eine Welle richtig zu reiten – aber ich habe überlebt.
Um die Welle zu reiten, hätte es Vertrauen gebraucht: „Schau nach vorne, nicht nach unten!“ war die wiederkehrende Anweisung von Jesús: „Unten siehst Du das Loch und es zieht dich herunter: Du musst immer dorthin schauen, wo Du hingelangen möchtest!“ Im Prinzip leuchtet mir das ein, aber in der Umsetzung braucht es: Vertrauen. Wir haben uns hinterher darüber unterhalten: Um hochzuschauen braucht es Vertrauen – und es gibt Dir Vertrauen. Sobald Du zweifelst, Angst hast, in die Gedanken hinein und aus Körpergefühl und Intuition herausgehst, verlierst Du das Gleichgewicht und die Wellen schlagen über Dir zusammen. Surfen ist ein Bild des Lebens. Und eine Schule der Spiritualität.
Wenn die Wellen über Dir zusammenschlagen, musst Du kämpfen, um wieder aufs Brett zu kommen: paddeln, paddeln, paddeln, auch wenn die Arme schmerzen, denn es kommt schon die nächste Welle angerollt und wenn Du aufgibst, wird sie dich unter Wasser ziehen und dann kommt die nächste, und die Panik. Aber wenn Du lernst, das Brett einzusetzen, entschlossen zu rudern, die Wellen einzuschätzen, dann kannst Du den Rhythmus der Wellen und des Meeres spüren und seinem Takt folgen.
Am Tag zuvor war ich mit Malau und Andy in einem Lokal an einem anderen bekannten Surferstrand Mittagessen („Playa hermosa“, wo Schildkröten ihre Nester legen, auf dem Meer die Wale mit ihren Jungen vorbeiziehen und wo die Wellen eine enorme Kraft haben). Wir haben über den Glauben und unseren Zugang zur Spiritualität gesprochen. Malau hat diesen Zugang im Wald, im Kakao, in der Erfahrung von Wildnis und in der Weisheit indigener Völker gefunden (sie ist Anthropologin). Andy erlebt ihn im Surfen. Er erzählt, wie er die vergangenen Tage auf dem Meer getrieben ist, in die Weite gesehen und auf eine Welle gewartet hat – und drei Delfine ihn besucht haben. Und er konnte erzählen, wie das Surfen Menschen verändert. In Jacó gibt es viel Tourismus, Konsumismus, Drogen und Prostitution. Aber es gibt auch eine lebendige Surferszene. Er kennt Kinder, die das Surfen von der Straße geholt hat: Es ist eine Schule des Vertrauens und der realistischen Selbsteinschätzung, im Kennenlernen der eigenen Möglichkeiten und Grenzen, im Betrachten der unendlichen Weite des Ozeans und seiner ungeheuren Kraft, im Einswerden mit dem Meer.
Surfen heißt aber auch, auf die richtige Welle zu warten und dann den richtigen Moment zu erkennen und zu ergreifen. Es ist Einübung in ein kairologisches Verständnis der Zeit, das dem rhythmischen der Natur nicht widerspricht. Die Wellen haben ihren Rhythmus Für den Menschen kommt es darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu erspüren und dann entschlossen zu ergreifen (paddeln, paddeln, paddeln – die geübten Surfer brauchen kaum noch zu paddeln, denn sie erkennen den Zeitpunkt). Jesús hat mich hier an die Hand genommen, damit ich die Größe und Kraft der Welle richtig einschätze und eine solche wähle, die meine Fähigkeiten und Kraft nicht überfordert. Auch das ein Bild fürs Leben: Ich hatte meine Reise mit diesem Wunsch verbunden, im Leben und Beruf zu lernen, den richtigen Moment zu erkennen, um die Wellen dann entschlossen zu reiten. Vielleicht habe ich in der Surfstunde mehr darüber gelernt als in den Vorträgen und theologischen Tagungen.
Aber bin ich nicht letztlich gescheitert? Ich habe heute keine einzige Welle richtig genommen, bin nicht mehr als einige Meter gesurft, bevor ich nach unten geschaut, das Vertrauen und das Gleichgewicht verloren habe. Zugleich habe ich viel gelernt. Ich habe meine Angst überwunden und nicht aufgeben, als mich eine Reihe großer Wellen überspült und mitgerissen haben, in einem Moment, als Jesús gerade weit weg war und meine Luft und Kraft langsam knapp wurden. Ich habe – gleich zu Beginn und mehrfach – die „Schildkröte“ geschafft: eine Drehung mit dem Brett, wenn eine große Welle genau vor Dir bricht, um in Rückenstellung mit dem Board über Dir durch die Welle hindurch zu tauchen. Ich habe meine Angst vor dem tiefen Wasser überwunden. Ich hatte so etwas noch nie gemacht und wusste nicht, dass ich mich das traue. Und nicht zuletzt: Ich habe überlebt, mich einigermaßen realistisch eingeschätzt und bei den Niederlagen nicht aufgegeben.
So kann ich morgen nach Oaxaca ins nächste Unbekannte aufbrechen, mein reales Vertrauen weiter einüben.
Martin Kirschner, Jacó/Costa Rica, den 21.10.2025