Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch

Sind autegime effizienter als Demokratien? Diese Frage wird von Rudolf Maresch in seinem Beitrag „Die Entwestlichung der Welt ist längst im vollen Gang“ im „Eurasischen Magazin“ (3, 2009) eindeutig bejaht. Er hält es für einen Vorteil, dass Autokratien ohne Rücksicht auf die „Macht der Medienöffentlichkeit“ solch ehrgeizige Großprojekte realisieren können – wie z.B. den Drei-Schluchten-Damm in China „mit all [ihren] ökologischen Kosten oder Zwangsumsiedlungen“. Man könnte, unabhängig von Maresch, viele andere Beispiele für die „Effizienz“ der Autokratien anführen, die sich allerdings beim näheren Hinsehen oft als trügerisch erweisen.

So gelang es Hitler z.B. innerhalb von 5 Jahren beinahe alle Restriktionen des Versailler Vertrages zu beseitigen. Man könnte deshalb meinen, das Dritte Reich sei effizienter als die Weimarer Republik gewesen, die sich im Verlaufe ihrer gesamten etwa 14-jährigen Existenz vergeblich um die Revision der Versailler Ordnung bemühte.

Dem NS-Regime gelang es auch, die Arbeitslosigkeit in Deutschland erheblich zu reduzieren. Die Zahl der Arbeitslosen, die im Januar 1933 noch etwa 6 Millionen betrug[1], sank im Jahre 1938 auf etwa 0,4 Millionen[2].

War also das NS-Regime effizient? Diese Frage lässt sich nur dann bejahen, wenn man davon abstrahiert, welchen Zwecken diese „Effizienz“ diente, also davon absieht, dass sie gänzlich auf den Krieg fixiert war. So betrug der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt im Dritten Reich im Jahre 1939 29%: „Im Mai 1939 waren mehr als 20% aller deutschen Industriearbeitnehmer für die Rüstung tätig“[3]. Und welchen Zielen diese enorme Aufrüstung dienen sollte, wurde von den NS-Führern noch vor Kriegsausbruch deutlich formuliert. So verkündete der „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, am 8. November 1938 folgendes: Hitler werde ein „großgermanisches Reich schaffen […], das größte Reich, das von dieser Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat“[4] . Diese Aussage wird vom Berliner Historiker Heinrich August Winkler folgendermaßen kommentiert: „[Die] Alternative lautete für Himmler: das ´großgermanische Reich oder das Nichts´“[5].

Hitler kündigte seinerseits in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an.[6]

Die Folgen dieser beiden Ankündigungen sind bekannt. Sie stürzten Deutschland und ganz Europa in die größte Katastrophe ihrer Geschichte. Da die Hitlersche Autokratie sich jeder gesellschaftlicher Kontrolle entzog, konnte niemand die NS-Führung daran hindern, ihre programmatischen Vorstellungen von einer rassisch geprägten neuen Weltordnung in die Wirklichkeit umzusetzen. Es begann eine Reihe von Vernichtungsfeldzügen und „Endlösungen“, denen immer größere Menschengruppen zum Opfer fielen – psychisch Kranke, polnische Intellektuelle, sowjetische Kriegsgefangenen, Sinti und Roma, slawische Völker in den besetzten Gebieten, in erster Linie aber die Juden, die für die nationalsozialistische Ideologie das Böse an sich verkörperten und deshalb gänzlich eliminiert werden sollten. Lediglich der überlegenen Macht der Anti-Hitler-Koalition gelang es, die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes zum Stehen zu bringen. So hinterließ die angebliche „Effizienz“ des Dritten Reiches letztendlich nur Trümmer.

Und wie verhielt es sich mit der „Effizienz“ des Stalinschen Regimes, das nicht selten, und zwar sowohl im Osten als auch im Westen, als ein Vehikel zur Beseitigung der russischen „Rückständigkeit“ angesehen wird?

Es gelang Stalin in der Tat, innerhalb von etwa zehn Jahren (bis Ende der 1930er Jahre) die UdSSR zu einem der stärksten Industriestaaten der Welt zu machen. (Dies betraf natürlich nur die Schwer- und Rüstungsindustrie. Im Bereich der Konsumindustrie hinkte die Sowjetunion hinter den hochentwickelten Ländern des Westens hoffnungslos hinterher.)

Welchen Preis musste aber die sowjetische Bevölkerung für diese angebliche Effizienz der Stalinschen Autokratie bezahlen? Als erstes muss man die sowjetische Bauernschaft erwähnen – also etwa 80% der Bevölkerung –, die im Verlaufe der Kollektivierung der Landwirtschaft, die parallel zur Industrialisierung verlief, gänzlich enteignet wurde. Dem Bauernstand als solchem mit seiner emotionalen Bindung zur eigenen Landparzelle wurde dadurch das Rückgrat gebrochen. Deshalb spricht man in Russland gelegentlich von der „Entbäuerlichung“ der Bauernschaft. Die landwirtschaftliche Produktion fiel rapide, und so konnte das Land, das vor dem Ersten Weltkrieg zu den größten Getreideexporteuren der Welt zählte, sich selbst nicht mehr ernähren. Die unmittelbare Folge der Kollektivierung war die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte Russlands bzw. des russischen Reiches, der mehr als 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen (in erster Linie in der Ukraine und in Kasachstan).

Seitens des Regimes wurde kaum etwas unternommen, um diese Katastrophe zu bekämpfen.

Im Gegenteil. Die Bauern, die aus den von der Hungersnot besonders stark betroffenen Gebieten zu fliehen suchten, so vor allem in die besser versorgten Städte, wurden von den Terrororganen mit Gewalt daran gehindert.

Im Dezember 1932 wurde in der Sowjetunion ein neues Passsystem eingeführt, mit dem ausdrücklichen Ziel, „die Städte von den sich dort verbergenden Kulaken, Verbrechern und sonstigen asozialen Elementen zu reinigen“.[7] Nur die Inhaber der neuen Pässe hatten das Recht, in Städten zu wohnen. Da die Kolchosbauern in der Regel solche Ausweise nicht erhielten, wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Nicht zuletzt deshalb galt die Kollektivierung der Landwirtschaft im Volksmunde als die „zweite Leibeigenschaft“.

Aber nicht nur die Abriegelung der Städte und die Eindämmung der Landflucht, sondern auch andere Fakten weisen darauf hin, dass die stalinistische Führung keineswegs daran interessiert war, die Hungersnot auf dem Lande zu lindern. So exportierte die Sowjetunion ungeachtet der dramatischen Verschlechterung der Versorgungslage, weiter Getreide. Im Jahre 1933, auf dem Höhepunkt der Hungersnot, wurden z.B. 18 Millionen Doppelzentner Weizen exportiert.[8]

Der sowjetische Agrarhistoriker Viktor Danilow schrieb zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka (1988): „Der Hunger von 1932-33 stellte das schrecklichste Verbrechen Stalins dar. Dies war eine Katastrophe, die die gesamte künftige Entwicklung des sowjetischen Dorfes entscheidend prägte.“[9]

Neben der Senkung des Lebensstandards finanzierte die sowjetische Führung die schnelle Industrialisierung durch die relativ billige Zwangsarbeit. Die Zahl der Häftlinge in den Arbeitslagern und die der Deportierten (in erster Linie der wohlhabenden Bauern – der „Kulaken“) wuchs im Jahre 1931 im Vergleich zum Jahre 1928 von 30 000 auf etwa 2 Millionen. Die Sicherheitskräfte (OGPU, seit 1934 NKWD - Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) entwickelten sich zu einem Staat im Staate, zu einem gigantischen Wirtschaftsunternehmen mit Millionen von Arbeitern, die den Staat kaum etwas kosteten, die massenweise an Unterernährung und Überarbeitung starben. 1931 entstand in Moskau die sog. Entkulakisierungskommission unter der Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, A. Andrejew. Diese Kommission stellte den Sicherheitsorganen und den unter ihrer Leitung stehenden Industriebetrieben die deportierten „Kulaken“ als Zwangsarbeiter zur Verfügung. So beschloß die Kommission z.B. am 30. Juli 1931, dem Industriekomplex Wostok-Stal (Ost-Stahl) 14 000 Kulakenfamilien zuzuteilen, dem Industriekomplex Wostok-Ugol (Ost-Kohle) 7 000 Familien usw.[10]

Gewalt und erzwungener Konsumverzicht allein hätten indes keineswegs dazu ausgereicht, um eine derart schnelle Industrialisierung des Landes durchzuführen. Eine zusätzliche Bedingung für das Gelingen der Stalinschen Revolution von oben war auch die Opferbereitschaft und der Enthusiasmus unzähliger Industriearbeiter, vor allem aus der jüngeren Generation. Viele dieser Arbeiter waren stolz darauf, sich an einem derart ehrgeizigen Unternehmen wie der Überwindung der „russischen Rückständigkeit“ zu beteiligen. Dies betraf in erster Linie die Erbauer solch prestigeträchtiger Großprojekte wie der neuen Industriestadt Magnitogorsk im Ural, des Dnjepr-Staudamms (Dnjeproges), des Traktorenwerks in Stalingrad oder der Moskauer Metro.

Die sowjetische Propaganda bediente sich einer martialischen Sprache, um das Engagement der Industriearbeiter als kriegerischen Einsatz darzustellen und feierte die „Helden der Arbeit“ wie Kriegshelden. Diese Indoktrination verfehlte ihre Wirkung nicht. Manche stalinistischen Denkklischees wurden von unzähligen Sowjetbürgern verinnerlicht. Dies lässt sich sicher als einer der größten Erfolge des Regimes bezeichnen, das in erster Linie auf Unterjochung und Ausbeutung der eigenen Bevölkerung basierte.

Der Arbeitsenthusiasmus, die Opferbereitschaft der Vorkämpfer gegen die „russische Rückständigkeit“ ließen sich nicht allzulange aufrechterhalten. Fehlentscheidungen und die dilettantische Vorgehensweise des sowjetischen Industriemanagements, Unerfahrenheit und mangelnde Fachkenntnisse der neuen Generation der sowjetischen Industriearbeiter führten immer wieder zum Stillstand der Produktion, zu unzähligen Pannen usw. All das wirkte sich äußerst negativ auf die Arbeitsmoral aus. Dazu kamen die katastrophalen Wohnverhältnisse und permanente Versorgungsschwierigkeiten, die nicht zuletzt aus der Zerschlagung des Privatsektors im Handel und in der Konsumgüterindustrie Ende der 20er/Anfang der 30er resultierten. Auch diese Faktoren lähmten den ursprünglichen Elan der Erbauer des neuen Russland und führten wiederholt zu Protesten und Unmutsäußerungen unterschiedlichster Art. Da die stalinistische Führung jede Kritik von unten als Sakrileg empfand, benötigte sie immer einen „Vorrat an Feinden“ ( nach den Worten des tschechoslowakischen Dissidenten Eduard Goldstücker), um sie für die Fehler des Regimes verantwortlich zu machen. Dies waren die sog. „Saboteure“, „Schädlinge“, „Agenten des Imperialismus“ und schließlich „Volksfeinde“, ohne die das stalinistische System praktisch nicht existieren konnte.

Der durch den Verfolgungswahn des Kreml-Tyrannen ausgelöste Massenterror war gegen alle Schichten der sowjetischen Bevölkerung gerichtet. Mehr als 681.000 Personen wurden allein in den Jahren 1937/38 hingerichtet.[11]

Eine Tragödie besonderer Art stellte für das Land die Enthauptung der Roten Armee durch die Stalin-Riege ausgerechnet am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges dar. 40 000 Offiziere gerieren ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie. Eine besonders erschreckende Zahl soll in diesem Zusammenhang angeführt werden: Im deutsch-sowjetischen Krieg sind etwa 600 sowjetische Generäle gefallen. Dem Krieg Stalins gegen die Rote Armee in den Jahren 1937-39 fielen dreimal so viele Generäle bzw. dem Generalsrang Gleichgestellte zum Opfer.[12]

Die Stalinsche Führung schuf in den 1930er Jahren ein System, das der Philosoph Anatolij Butenko zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka als die „Hölle auf Erden“ bezeichnete. Diese „Hölle“ wurde aber von den stalinistischen Propagandisten zum „Paradies auf Erden“ stilisiert, in dem das Leben nach den Worten Stalins „besser und fröhlicher“ geworden sei.

Es gibt natürlich autokratische Regime, die weniger blutrünstig als das Stalinsche oder das Hitlersche sind, und die ihre „raubtierhaften Züge“ ablegen (diese Worte benutzte der sowjetische Bürgerrechtler Andrej Sacharow in Bezug auf das nachstalinsche Regime in der UdSSR).[13]

Da aber auch die Autokratien milderer Art keiner gesellschaftlicher Kontrolle unterliegen, kann sie niemand daran hindern, in bestimmten Krisensituationen ihren Kurs zu verhärten. Aus all diesen Gründen kann man die von Rudolf Maresch so gelobte Effizienz der autokratischen Regime eher als trügerisch bezeichnen.

Zum Schluss möchte ich noch mit einem Missverständnis aufräumen. Herr Maresch wirft mir vor, dass ich in meinem Beitrag „Die Demokratie ist kein Auslaufmodell“ (Eurasisches Magazin 2/2009) zur Verklärung der westlichen Denkmodelle neige. Dies trifft aber keineswegs zu. In meinem Text weise ich eindeutig darauf hin, dass die Ablehnung der „offenen Gesellschaft“ auch im Westen eine sehr verbreitete Erscheinung darstellt. Zu dem bereits Gesagten möchte ich noch hinzufügen, dass das reibungslose Funktionieren der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und der Judendeportationen in die Vernichtungslager im Osten ohne unzählige Kollaborateure in den besetzten Ländern West- und Osteuropas undenkbar gewesen wäre. Die Namen Quisling, Laval, Degrelle, Szálasi stehen stellvertretend für sehr sehr viele.

Was die europäische Linke anbetrifft, so gab es hier, wie bekannt, unzählige Bewunderer solcher Massenmörder wie Stalin und Mao Tse-tung.

So ist der Westen in seiner Einstellung zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung gespalten. Das Gleiche gilt aber auch für den Osten. Denn auch dort findet eine ununterbrochene Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern und den Verächtern der Freiheit statt. Die chinesischen Studenten, die im Frühjahr 1989 am Platz des Himmlischen Friedens gegen das eigene repressive Regime demonstrierten, oder die birmanischen Oppositionellen zeigen, dass die emanzipatorischen Bestrebungen und die Infragestellung der autokratischen Herrschaftsmethoden nicht nur ein westliches, sondern ein universales Phänomen darstellen. Früher oder später werden auch die „effizientesten“ Autokratien damit konfrontiert. Dieser Sachverhalt wird von Rudolf Maresch unterschätzt.

Leonid Luks


[1] Ian Kershaw: Hitler. 1889-1936, Stuttgart 1998, S.502.

[2] Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, München 2002, S.62.

[3] Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland, München 2005, S.557.

[4] Zit. nach Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2, S.62.

[5] Ebenda.

[6] Zit. nach Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entstehung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Darmstadt 1990, Teilband II, S.282.

[7] Edgar Hösch/Hans-Jürgen Grabmüller: Daten der sowjetischen Geschichte von 1917 bis zur Gegenwart, München 1982, S.82.

[8] Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk, in: Stéphane Courtois, Hrsg.: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München-Zürich 1998, S.185

[9] Istorija SSSR [Geschichte der UdSSR), 3/1989, S.55.

[10] S. Kuleschow u.a.: Nasche Otetschestwo [Unser Vaterland], Moskau 1991, Band 2, S.255.

[11] A. Artisow u.a. Hrsg.: Reabilitatsija. Kak eto bylo [Rehabilitierung. Wie es war], Moskau 2000, S.317.

[12] Bernd Bonwetsch: „Die Geschichte des Krieges ist noch nicht geschrieben“: Die Repression, das Militär und der Große Vaterländische Krieg, in: Osteuropa 1989, S.1021-1038, hier S.1021.

[13] Andrej Sacharow: Die Unvermeidlichkeit der Perestrojka, in: Jurij Afanassjew, Hrsg.: Es gibt keine Alternative zu Perestrojka, Nördlingen 1988, S.161.