Dr. Silvana Kandel Lamdan, Jerusalem/Haifa, als Gastwissenschaftlerin am ZRKG

Für den 27. Mai 2024 luden der Lehrstuhl für Theologie in Transformation gemeinsam mit der Professur für Pastoraltheologie und dem ZRKG in den Räumen der KHG die Religionswissenschaftlerin und Rabbinerin Dr. Silvana Kandel Lamdan von der Hebrew University of Jerusalem ein, um über die jüdischen Wurzeln der Befreiungstheologie zu referieren. Am 28. Mai 2024 folgte ein Vortrag im kleinen Kreis über messianisches Denken und die jüdische Friedens- und Kibbuzimbewegung, dem ein Gespräch über die heutige Situation in Israel/Palästina folgte. Im Bewusstsein des unendlichen Leidens auf beiden Seiten war es ein von Nachdenklichkeit geprägtes Gespräch, dass in Erinnerung an Martin Buber und anhand konkreter Projekte nach Möglichkeiten eines Zusammenlebens von Juden und Arabern, Israelis und Palästinensern suchte – trotz allem, was gerade geschieht. Beide Vorträge erinnerten an Aufbrüche, die im 20. Jahrhundert in der Begegnung der Religionen und Kulturräume nach Formen eines gerechteren Zusammenlebens und einer Befreiung aus Unterdrückung suchten. Diese Erinnerungen gilt es in den Gewalterfahrungen der Gegenwart wach zu halten und Raum für einen Diskurs zu öffnen, der Feindbilder und einfache Identifikationen unterbricht.

Der erste Vortrag „The Jewish Roots of Liberation Theology: From Nazareth to the Second Vatican Council“ wandte sich einer wenig bekannten Seite der Entstehungsgeschichte der Befreiungstheologie zu: Den Einflüssen, welche die Erfahrungen in Galiläa und die Begegnungen mit jüdischen Denkern für die Entstehung der Befreiungstheologie hatten. Silvana Kandel, die selbst aus Argentinien stammt, zeichnete dabei die Begegnungen zwischen lateinamerikanischen Theologen, europäischer Theologie und ihrem Gespräch mit jüdischem Denken und Schlüsselerfahrungen im Heiligen Land nach. Zu nennen ist hier jedoch zunächst der französische Arbeiterpriester Paul Gauthier, der in den Spuren von Charles de Foucauld nach Nazareth ging, um dort nach dem Vorbild Jesu das Leben der Menschen zu teilen. Der Kontakt mit der jüdischen Gesellschaft und der arabischen Bevölkerung, das Kennenlernen der hebräischen Sprache und der Kibbuzimbewegung, sein Einsatz für die einfachen Menschen und die vielen Araber, die nach Nazareth hatten fliehen müssen, die vermittelnde Rolle gegenüber dem jungen israelischen Staat prägte seine Erfahrung in Israel, die über die Gruppe der „Kirche der Armen“ in das Zweite Vatikanische Konzil einfloss und die Befreiungstheologie mit anstieß. Der Argentinier Enrique Dussel verbrachte zwei Jahre mit ihm in Israel und entwickelte dort sein neues Verständnis Lateinamerikas und die Bedeutung der Armen. Sein Konzept eines „semitischen Humanismus“ war stark von Martin Buber und von Dussels Erfahrungen im Kibbuz geprägt.

Der zweite Vortrag „Messianic Thought and Jewish Peace Movements“ wandte sich angesichts der desolaten Situation in Israel/Palästina heute den Wurzeln der Kibbuzim-Bewegung und einer messianischen, sozialistisch-utopischen Friedensspiritualität, wie sie etwa bei Aaron David Gordon, vor allem aber bei Martin Buber entwickelt wurde. Kandel stellte Bubers kulturellen Zionismus, der auf ein Zusammenleben von Juden und Arabern im Land Israel setzte, dem politischen Zionismus Theodor Herzls gegenüber, vor allem aber der späteren Entwicklung des Staates Israel unter David Ben Gurion. Dabei argumentierte Kandel mit Verweis auf Bubers „Pfade in Utopia“, aber auch auf eigene Erfahrungen, dass die Kibbuzim-Bewegung eines der wenigen Beispiele einer konkret gelebten und realisierten Gemeinschaft im Sinne des sogenannten „utopischen Sozialismus“ bildeten und bilden, die eng an eine kommunitäre Bearbeitung des Landes gebunden sind und eine Vision der Konvivenz von Palästinensern und Juden im Land Israel verfolgen. An einem Brief Bubers an Mahatma Gandhi machte sie deutlich, wie Buber gegen den Vorwurf der Illegitimität der jüdischen Besiedlung des Landes auf die besondere Bedeutung des Landes Israels für die Juden verweist, diese mit Verweis auf die hebräische Bibel zugleich als einen ethischen Auftrag und Verpflichtung auslegt. So machte der Vortrag deutlich, wie angesichts der eskalierenden Gewalt, beginnend mit den Hamas-Angriffen am 7. Oktober 2023, dem sich anschließenden Leiden und dem Unrecht auf beiden Seiten jene Gruppen und Bewegungen ein Zeichen der Hoffnung sein können, die Modelle der Konvivenz und einer anderen Land- und Güterordnung konkret leben. Konkret verwies Kandel auf das Projekt der „Hand-in-Hand“-Schulen, die in Kontrast zum scharf separierten Bildungssystem in Israel eine gemeinsame Schulbildung für Juden und Araber organisieren, die durchgängig zweisprachig stattfindet und engen Austausch zwischen Juden, Muslimen und Christen ermöglicht (vgl. https://www.handinhandk12.org/). Es schloss sich ein intensives Gespräch an, das im Bewusstsein des ungeheuren Leids und der verfahrenen Situation nach Auswegen, Hoffnungszeichen und Visionen für ein gemeinsames Leben von Israelis und Palästinensern in Freiheit zwischen Meer und Fluss fragte.