Die bis September 2023 mehrheitlich von Armeniern besiedelte Region Bergkarabach ist zwischen Armenien und dem Nachbarn Aserbaidschan heftig umstritten. Immer wieder brachen in den zurückliegenden Jahrzehnten Fragen der Unabhängigkeit und des Selbstbestimmungsrechts außerhalb des Staatsgefüges Aserbaidschans auf. Bereits 1988 kam es in den aserbaidschanischen Städten Sumqayıt und Gəncə (Kirowabad) zu Pogromen an der armenischen Bevölkerung, 1990 auch in der Hauptstadt Baku. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und als 1991 die Republik Arzach – so der historische Name der Region – ihre Unabhängigkeit erklärte, eskalierte der Konflikt im ersten Krieg um Bergkarabach. Auf beiden Seiten wurden tausende Soldaten und Zivilisten getötet. Die Kampfhandlungen konnten 1994 letztlich durch einen Waffenstillstand beendet werden. Die Unabhängigkeit der neugegründeten Republik Arzach wurde jedoch international nie anerkannt.
Mehrere diplomatische Vermittlungsversuche scheiterten, spätestens als am 27. September 2020 Aserbaidschan eine neue Großoffensive startete. Der zweite Berg-Karabach-Krieg dauerte 44 Tage und konnte durch einen von Russland vermittelten Waffenstillstand am 9. November beendet werden. Die Niederlage für die armenische Seite war offensichtlich: Große Gebiete Arzachs mussten an aserbaidschanische Kontrolle abgegeben werden, darunter auch traditionell armenische Städte wie Hadrut und Schuschi. Eine Lösung des Konflikts stellte dieses Abkommen nicht dar.
Auf einem Hügel in Jerewan, am Ende der Mesrop-Maschtoz-Avenue, residiert ein massiver Baukomplex: das Institut für Manuskripte – „Matenadaran“ genannt –, an dem kein Tourist einfach nur vorbeilaufen kann. Meri arbeitet nun dort, im Handschrifteninstitut, nachdem sie ihren letzten Wohnsitz in Stepanakert, der Hauptstadt Arzachs, verlassen musste. Zuvor leitete sie die Zweigstelle des Matenadaran in der Klosteranlage Gandsassar. Im Jahr 1216 wurde das Kloster gegründet und entwickelte sich schnell zu einem kulturellen Zentrum. Hier wirkte der berühmte Rechtsgelehrte und Fabeldichter Mechitar Gosch. Im großen Skriptorium wurden zahlreiche Handschriften hergestellt und illuminiert.
Am 19. September 2023 erzwingt die aserbaidschanische Armee nach neunmonatiger Blockade mit einer eintägigen „Sonderoperation“ – so nennt Aserbaidschan den kriegerischen Angriff – die Auflösung der Republik Arzach. Die gesamte armenische Bevölkerung wird aus der Region vertrieben. Nur einen Koffer nimmt Meri mit, mehr nicht. Innerhalb weniger Stunden muss sie ihr Haus verlassen. In diesem Koffer sind zwei, drei Kleidungsstücke, die eigentlich gar nicht zusammenpassen, Fotos, aus den Alben herausgetrennt, damit sich nicht so viel Platz wegnehmen, die Bibel und zwei Kaffeetassen, mit denen sie und ihr Mann die Wärme und den Geruch ihres Hauses bewahren wollen. Mehr Platz bleibt nicht, denn auch ihre Schwiegereltern und ihre Mutter müssen ins Auto passen.
Ursprünglich stammt Meri aus Hadrut, einer waldreichen und gebirgigen Region im Süden Arzachs. Ihre schönsten Erinnerungen sind mit dieser Stadt verbunden, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte, bevor sie bereits während des ersten Kriegs um Bergkarabach in den 1990er-Jahren an einen sichereren Ort fliehen musste. Nun also eine zweite Flucht. Über 120 000 Armenier müssen 2023 aus Arzach fliehen. Innerhalb von fünf Tagen. Fünf Tage, die Meri nie vergessen wird. Sie beschreibt den Weg mit nur einem Wort: „Hölle!“ 56 Stunden dauert der beschwerliche Weg für ihre Familie, unterwegs auf der Flucht sterben Menschen, aber auch ein Baby wird geboren.
Meri scheint dennoch nicht hoffnungslos zu sein. Ja, sie lebt, sie lebt heute in Armenien, in der Heimat. Aber sie ist nicht zuhause. Sie ist sich nicht sicher, ob es der richtige Schritt war, Arzach zu verlasen. Aber welche Alternative hätte es gegeben? Sie hatte keine andere Wahl: zwischen Unterdrückung, möglicherweise sogar Tod oder Flucht hat sie sich für letztere Option entschieden. Doch damit scheint auch eine andere Entscheidung gefallen zu sein: Das jahrhundertealte armenische Kulturerbe in Arzach steht vor seiner Auslöschung.
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In der militärisch bewachten ehemaligen Hauptstadt Stepanakert – sofort nach der aserbaidschanischen Eroberung in Xankəndi umbenannt – nahm Ilham Alijew im Februar 2024 an den um ein Jahr vorgezogenen Präsidentschaftswahlen teil, die er freilich für sich entscheiden konnte. Wenige Tage später wurden an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze vier armenische Soldaten getötet. Der Konflikt um Bergkarabach, der seit mehr als 30 Jahren zahllose Menschenleben kostete, hat noch kein Ende gefunden. Die aktuellen Drohungen des aserbaidschanischen Präsidenten sind nun gegen die Souveränität der Republik Armenien gerichtet.