Gewagte Parallelen

Der junge nordkoreanische Diktator hält zur Zeit die Welt durch seine atomaren Drohungen in Atem. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das nordkoreanische Regime sich aufgrund seines totalitären Charakters jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle entzogen hat und gerade deshalb zu riskanten Schritten neigt, die sowohl das Schicksal der eigenen Nation als auch dasjenige der Nachbarn aufs Spiel setzen. Die vergleichende Diktaturenforschung kennt eine Reihe anderer Regime, die demjenigen Pjöngjangs ähneln. Aber solche Parallelen interessieren den SZ-Autor Christoph Neidhart nicht.

In seinem Artikel „Das unmögliche Land“ (Süddeutsche Zeitung vom 16. April 2013) vergleicht er das Regiment Kim Jong Uns mit demjenigen eines ganz anderen Politikers, nämlich ... Michail Gorbatschows. Er schreibt: „Kim steht vor einer ähnlichen, ziemlich unmöglichen Aufgabe, wie Gorbatschow sie als sowjetischer Parteichef zu lösen versuchte. Gorbatschow ist gescheitert; und Kims Chancen stehen auch nicht gerade gut“.Ich  möchte  zunächst auf den ersten Teil der Aussage Neidhardts eingehen, auf das angebliche „Scheitern“ Gorbatschows.

Gorbatschow scheiterte in der Tat, allerdings in erster Linie aus der Sicht der Verfechter des kommunistischen Absolutheitsanspruchs wie auch der Verteidiger des imperialen russischen Gedankens. Nicht zuletzt deshalb wird er sowohl von den kommunistischen als auch von den imperialen Nostalgikern im heutigen Russland zu einer Art Unperson erklärt.  Er scheiterte aber nicht in den Augen derjenigen, die sich nach der Befreiung Russland von der allgegenwärtigen Kontrolle des allmächtigen Parteiapparates sehnten, und auch nicht aus der Sicht derjenigen, die die 1917 begonnene Isolation Russlands von der Außenwelt beenden wollten.

Nun aber zurück zur weiteren Argumentation Neidharts. Gorbatschows „Scheitern“ führt er darauf zurück, dass Gorbatschow „keine Vorstellung davon hatte, wohin er den Staat steuern wollte ... (Er) hatte keinen Plan“.

Und in der Tat. Viele Entscheidungen Gorbatschows wurden ad hoc getroffen; über ihre Tragweite war er sich zunächst nicht im Klaren. Mit Hilfe dieser Entscheidungen veränderte er aber innerhalb kürzester Zeit sein Land bis zur Unkenntlichkeit.

 Dies betraf z. B. den im Grunde revolutionären Entschluss Gorbatschows, direkt an die Öffentlichkeit zu appellieren. Sie sollte einen permanenten Druck auf den reformunwilligen Parteiapparat ausüben. Im Juni 1986 erklärte der Generalsekretär bei einem Treffen mit den sowjetischen Filmschaffenden: „Zwischen dem Volk, das nach Veränderungen strebt, das davon träumt, und der Staatsführung befindet sich eine Schicht der Verwaltung, ... die keine Umgestaltungen will.“[1]

In einem System, das bis dahin auf einer lückenlosen Staatskontrolle und einer Bevormundung der Bürger basierte, wollte Gorbatschow nun auf einen neuen Typus von Menschen setzen. Diese sollten keine Befehlsempfänger, sondern „einfallsreiche, klar denkende und dynamische Persönlichkeiten sein [...], die imstande sind, eine Situation selbstkritisch einzuschätzen, sich vom Formalismus und vom dogmatischen Verhalten bei der Arbeit zu lösen“.[2]

Ähnlich umwälzende Folgen sollte Gorbatschowscher Feldzug gegen das Unfehlbarkeitsdogma der Partei haben, das die Kommunisten bis dahin wie ihr kostbarstes Gut gehütet hatten. Unantastbare Autoritäten und Tabus dürfe es nicht mehr geben, verkündete Gorbatschow 1987 und versetzte dadurch das Land in eine Art Wahrheitsrausch.

Die Werke der bis dahin verbotenen russischen Exilautoren, der sowjetischen aber auch westlichen Kommunismuskritiker durften nun im Lande erscheinen. Die Presse setzte sich immer kritischer mit dem stalinistischen, später auch mit dem leninistischen Erbe auseinander. Der vom 20. Parteitag der KPdSU ausgelöste und unter Breschnew abgewürgte Prozess der Vergangenheitsbewältigung erreichte eine völlig neue Dimension. Lassen sich all diese Vorgänge als „Gorbatschows Scheitern“ bezeichnen? 

Es ist zwar richtig, dass Gorbatschow zunächst gehofft hatte, die Partei werde in der Lage sein, den von ihm ausgelösten Bildersturm in kontrollierte Bahnen zu lenken. Als diese Erwartungen sich aber als Illusion erwiesen, fand er sich mit der immer stärker werdenden Abwendung der Bevölkerung von der Partei letztendlich ab und beschloss im März 1990, nach anfänglichem Zögern,  den 6. Artikel der sowjetischen Verfassung, der die führende Rolle der Partei im Lande garantierte, in seiner ursprünglichen Form zu streichen.

So enthielt das Reformvorhaben Gorbatschows einige Denkfehler, die dazu führten, dass die von ihm ursprünglich geplante Erneuerung des „real existierenden“ sozialistischen Systems zum Systemwechsel führte. War also Gorbatschow lediglich ein Getriebener, der die umwälzenden Veränderungen in seinem Land lediglich hinnahm, also ein innenpolitischer „Versager“, wie Christoph Neidhart dies suggeriert?

Keineswegs. Trotz seiner oft zögerlichen und zwiespältigen Haltung in vielen Bereichen, griff er in die Geschehnisse immer wieder aktiv ein, und entschied dadurch über das weitere Schicksal der Reformen.

Besonders deutlich spiegelte sich diese seine ambivalente Haltung bei den Ereignissen vom Winter 1990/91. Er hat damals zwar nicht allzu viel gegen die Bestrafungsaktionen der sowjetischen Dogmatiker im Baltikum unternommen, die das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen versuchten. Aber von einer massiven Bestrafungsaktion etwa nach dem ungarischen Vorbild von 1956 nahm er Abstand. Er ließ eine gänzliche Zerstörung seines Werks – der Perestrojka – nicht zu.

Einer der Gründer der imperial gesinnten Abgeordnetengruppe Sojuz (Bund) im sowjetischen Parlament, Oberst Viktor Alksnis, bezeichnete  Gorbatschow in einem Interview offen als den Hauptschuldigen für das Scheitern der damaligen Putschpläne: „Die Sache wurde mittendrin aufgegeben. Offenbar zeigte sich auch hierbei das Wesen Gorbatschows als Mensch und als Politiker. Er machte halt und alles brach zusammen“.[3]

   Der ungarische Schriftsteller György Dalos bezeichnete in seiner Gorbatschow-Biographie den letzten Generalsekretär der KPdSU als einen „Helden des Rückzugs“.

Mit Rückzug allein lässt sich allerdings eine der größten Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die von Gorbatschow ausgelöst wurde, nicht erklären. Viel wichtiger war in diesem Zusammenhang die Fähigkeit Gorbatschows, eine Zeitlang, wie er dies selbst formulierte,  das „Monster zu zügeln“. Damit meinte er das Streben der Dogmatiker im sowjetischen Parteiapparat nach einer antidemokratischen Revanche. Die Tatsache, dass es Gorbatschow gelang, den unausweichlichen Putsch der Dogmatiker zu verzögern, lässt sich wohl als seine größte politische Leistung bezeichnen.  Hätte der sich seit Jahren anbahnende Putsch nicht im August 1991, sondern etwa zwei Jahre früher stattgefunden, wäre der Weg zur deutschen Einheit bzw. zur Rückkehr der Vasallenstaaten Moskaus nach Europa viel steiniger gewesen, als er dies in der Realität gewesen war.

So war das Zeitfenster zur Überwindung der deutschen und der europäischen Spaltung nur sehr kurz geöffnet und lediglich durch die bröckelnde Macht Gorbatschows im sowjetischen Staatsgefüge garantiert.

Es bestand also zwischen der Gorbatschowschen Außenpolitik, die in den Augen Christoph Neidharts eine gewisse Anerkennung findet,  und seiner Innenpolitik, die der SZ-Autor für desaströs hält, eine untrennbare Verbindung. Wäre Gorbatschow als Innenpolitiker lediglich ein stümperhafter Versager gewesen, hätte er seine außenpolitischen Erfolge kaum erzielen können.

Abschließend möchte ich noch auf die gewagte Parallele eingehen, die der Autor zwischen dem Urheber der Perestrojka und dem nordkoreanischen Diktator zieht. Wie versucht Neidhart diesen bizarren Vergleich zu begründen? Er meint, sowohl Gorbatschow als auch Kim Jong Un hätten zur Zeit ihres jeweiligen Machtantritts ein marodes System übernommen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie sie dieses System reformieren könnten. Was sie darüber hinaus verbinde, so Neidhart, sei die Tatsache, dass sie einen „ähnlichen Ideologieballast trugen“.

Bei dieser Aufzählung der angeblichen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Politikern vergisst Neidhart indes Folgendes zu erwähnen: Die Gorbatschowsche Perestrojka stellte bereits den zweiten Versuch der sowjetischen Führung dar, die Strukturen des in den 1930 er Jahren errichteten stalinistischen Kommandosystems gründlich zu verändern. Schon der 20. Parteitag der KPdSU von 1956 hatte sich gegen die verbrecherische Politik des Urhebers dieses Systems und gegen den von ihm lancierten wahnwitzigen Personenkult gewandt. Zwar wurden die 1956 eingeleiteten Prozesse in der Breschnew-Periode eingedämmt und die Männer des 20. Parteitages kaltgestellt. Dennoch erhielten diese Männer nach dem Machtantritt Gorbatschows eine zweite Chance, und gehörten zu den wichtigsten Protagonisten der Perestrojka.

Ganz anders verhalten sich die Dinge im heutigen Nordkorea. Die Vaterfigur der heutigen  nordkoreanischen Diktatur – Kim Il Sung – wird weiterhin, in stalinistischer Manier, als eine unfehlbare,  gottähnliche Gestalt verehrt. Und dieser ideologische Ballast steht jeder Erneuerung des Systems im Wege. Solange Nordkorea seinen „20. Parteitag“ noch nicht erlebt hat, entbehrt die Suche nach Analogien zwischen dem System Gorbatschows und demjenigen Kim Jong Uns jeder Grundlage.

 Leonid Luks  


[1] Nur durch Kritik und Selbstkritik können wir uns kontrollieren, in: Frankfurter Rundschau 19. 9. 1986.

[2] Michail Gorbatschow, Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987, S.155.

[3] Moscow News, deutsche Ausgabe, Nr. 3, März 1991, S.9.