Die interdisziplinär angelegte Tagung „Der lange Abschied vom totalitären Erbe. Die deutsche, die russische und die polnische Vergangenheitsbewältigung im Vergleich“ unterteilte sich in drei Themenkomplexe. Die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland nach 1945 diente nicht nur vielen postautoritären und posttotalitären Staaten als Vorbild für ihre eigene Geschichtsaufarbeitung sondern auch als Grundstein der Tagung. Die Aufarbeitungsprozesse der totalitären Vergangenheit in Polen und Russland im Vergleich zu Deutschland bildeten darauf aufbauend den Rahmen für die Vorträge und Diskussionen. „Der Osten hat im Gegensatz zum Westen nicht nur eine, sondern zwei Varianten des Totalitarismus erleiden müssen. So ist der Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Terrorherrschaft hier nicht nur Gegenstand historischer Diskurse, sondern auch Bestandteil des Kollektivgedächtnisses.“ erklärt Prof. Leonid Luks (Katholische Universität Eichstätt –Ingolstadt) die Tagungsintention. Diese Besonderheit müsse ebenso im gesamteuropäischen Diskurs stärker berücksichtigt werden, wie die im Osten lange tabuisierte Totalitarismus- und Holocaustforschung. Deshalb, so Prof. Luks weiter: „befasst dich die Konferenz auch mit dem „Kampf der Erinnerungen“, der zur Zeit zu einem wichtigen Desiderat der Forschung gehört.“
Prof. Uwe Backes (TU Dresden) zeichnete die seinem Vortrag die Aufarbeitung der doppelten Diktaturenvergangenheit in Deutschland nach. Prof. Backes verglich die Bestrafung und den Austausch der autokratischen Herrschaftsträger im Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 und 1990. Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer und die geistige Auseinandersetzung mit dem autokratischen Erbe stellte er ebenso vergleichend dar. Die These wonach die Vergangenheitsaufarbeitung nach Ende der DDR, vergleichbar der nach 1945, durch die „Sieger“ motiviert sei, wies er als Mindermeinung der ehemaligen SED-Eliten zurück. „Diese Art der Mythenbildung ist kein Beitrag zu Aufarbeitung der Vergangenheit“ betonte der Stv. Direktor des Hannah-Arendt-Insitut.
Während Dr. Johannes Hürter (Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München) den Fokus auf den Beitrag zur NS-Vergangenheitsbewältigung einer einzelnen Teilelite, der Wehrmachtsgeneralität richtete, weitete Dr. Jürgen Zuresky (auch IfZ) den Blick auf die europäische Erinnerungspolitik nach Zusammenbruch des Ostblocks und die Rolle der Geschichtsaufarbeitung darin. Dr. Andreas Umland (Nationale Universität "Kyjiwer Mohyla-Akademie" Kiew) stellte ein Beispiel extremistischer Geschichtsinterpretation aus Russland vor.
Mit seinem Vortrag über die deutsche Besatzung im kollektiven Gedächtnis der Polen führte Dr. Thomas Chincinski (Museum des Zweiten Weltkrieges Danzig) in den Tagungspunkt der deutsch-polnischen und polnisch-russischen Aussöhnung ein.
Prof. Luks hob in seinem Vortrag über das polnische Russlandbild nach 1956 den Sondercharakter der polnischen Beziehungen zu Russland in den vergangen Jahrhunderten hervor. Die „300-jährige Vasallenschaft von Russland“ und der dadurch verursachte „Phantomschmerz“ präge noch immer die polnische Außenpolitik. Gleichzeitig habe der Beitritt Polens zur NATO die Beziehungen zu Russland nachhaltig verschlechtert. Die Katastrophe von Smolensk führte zu einer vorübergehenden Entspannung in den Beziehungen, die nicht mehr anhielte. Die schlechten außenpolitischen Beziehungen schlügen sich auch in der Bevölkerung nieder. Nach aktuellen Umfragen wird von der polnischen Bevölkerung Russland als eine größere Gefahr als Deutschland gesehen.
Die öffentliche Wahrnehmung des Flugzeugabsturzes von Smolensk in Russland beurteilte Prof. Mikolaj Iwanow (Universität Oppeln) hingegen als eines der wenigen positiven Aspekte des russischen Polenbildes. Das russische Polenbild sei vor allem im letzten Jahrhundert durch massive antipolnische Propaganda gekennzeichnet gewesen. Prof. Iwanow verdeutlichte an mitgebrachten Büchern, wie noch heute versucht werde antipolnische Ressentiments zu fördern.
Die Abschlussdiskussion zeigte, dass die in vielen ost- und westeuropäischen Ländern nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erwartete schnelle Aufarbeitung der „Tabuthemen“ nicht zu leisten sei. Die jetzige politische und wissenschaftliche Freiheit ermögliche die notwendigen Diskurse, doch habe insbesondere die Erfahrungen in Russland offenbart, dass nur durch verschiedene Anläufe eine umfängliche Aufarbeitung möglich sei. So habe nach einer sehr aktiven Zeit der Aufarbeitung unter Michael Gorbatschow und Boris Jelzin eine Periode der Stagnation eingesetzt. Betont wurde auch, dass der „Zeitaspekt“ nicht unerheblich sei, wie die vor Kurzem in Deutschland geführte Diskussion über die Rolle des Auswärtigen Amtes während der nationalsozialistischen Diktatur gezeigt habe- mehr als 65 Jahre nach deren Ende.
Bei dem im Anschluss an die Tagung stattfindenden Festempfang wurde Prof. Luks zu seinem 65. Geburtstag eine Festschrift („Brücken bauen. Analyse und Betrachtungen zwischen Ost und West“) vor zahlreichen Gästen überreicht. Unter diesen war auch der ehemalige deutsche Botschafter bei der Sowjetunion und Gastprofessor an der Geschichts- und Gesellschaftlichen Fakultät (1993/94) Dr. Hans-Georg Wieck.
Die Laudatoren beschrieben Prof. Luks als „Brückenbauer“ und stellten seinen Verdienst beim Aufbau des ZIMOS heraus. Das heutige wissenschaftliche Renommee des Instituts sei maßgeblich seinem Einsatz zu verdanken. Der Geehrte zeigte sich sichtlich gerührt über diese gelungene Überraschung. Er betonte bei seiner Dankesrede sein Bemühen um die „generationenübergreifende“ Zusammenarbeit der Wissenschaftler, die er auch durch die Zusammenstellung der Tagungssteilnehmer immer versucht habe zu fördern. Für ihn sei es wichtig die Emeriti auch weiterhin als Teil der Wissenschaftsfamilie einzubinden und gleichzeitig jungen Nachwuchswissenschaftlern eine Plattform zu bieten. Die Tagungsbeiträge von Andreas Fuchs, Antonia Zykowa, Madeleine Mahler und Gunter Dehnert (alle Eichstätt) stehen dafür beispielhaft. Prof Luks bedankte sich auch bei den Mitarbeitern des ZIMOS für ihre Unterstützung- seiner „zweiten Familie“.
Prof. Boris Chavkin aus Moskau freute sich besonders über die Ehrung seines Kollegen und Freundes, den er „zu Zeiten der Perestroika“ in Moskau kennen gelernt habe. Gleichzeitig zeigte er sich aber enttäuscht über die wenigen Studenten, die bei der „interessanten und intensiven“ Tagung teilnahmen. „Es müsste heute meine zehnte Tagung in Eichstätt gewesen sein, aber so wenige Studenten habe ich zuvor nicht gesehen. Wo sind diese? Warum sind sie nicht da?“ fragte sich der Professor der Akademie der Militärwissenschaften Moskau. Auch habe er vergeblich nach Gesprächspartner Ausschau gehalten, die sich mit der Methodik der Geschichte befassen. In seinem Vortrag hatte Prof. Chavkin die Stellung Stalins in der Erinnerungskultur des heutigen Russlands dargestellt.
Simon Sterbenk