Denn das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, auf dem die “zweite“ deutsche Demokratie basiert, ist untrennbar mit den geschichtlichen Lehren verbunden, die aus dem Scheitern der „ersten“ Demokratie (Weimar) gezogen wurden. Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem von der unantastbaren Würde des Menschen die Rede ist, stellt seinerseits die Antwort der Väter des Grundgesetzes auf die beispiellose Mißachtung dieser Würde in der NS-Zeit dar. Und schließlich wären die europäischen Integrationsprozesse nach 1950 ohne die verheerenden Erfahrungen der beiden Weltkriege undenkbar gewesen. All das zeigt, daß die Weisheit von der Geschichte als der „Lehrmeisterin des Lebens“ keineswegs veraltet ist. Von der Geschichte könne man durchaus lernen, sagt der britische Historiker Lewis Namier, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man genug Phantasie und Intuition habe, um die vergangenen Erfahrungen nicht mechanisch auf völlig neue Situationen zu übertragen. Namier führt mehrere Beispiele für solch „mechanisches“ Geschichtsdenken an: So habe die Angriffstaktik des preußischen Generalstabes, die 1870 der französischen Armee eine verheerende Niederlage beigebracht hatte, auch viele Generäle zu Beginn des Ersten Weltkrieges inspiriert, was zu entsetzlichen Verlusten an der Westfront führte. Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges haben wiederum die französische Militärführung zum Bau der Maginot-Linie bewogen, die 1940 von der deutschen Wehrmacht ohne Probleme umgangen wurde. Dieses mechanistische Analogiedenken veranlaßt Namier zu folgendem Fazit: „Die früheren Erfahrungen werden rigide auf die neuen Situationen übertragen, und so sind die Vorbereitungen abgeschlossen, die bereits vergangenen Kriege erneut zu führen“ (L.B. Namier, Avenues of History, London 1952, S. 7)
Der britische Historiker weist aber zugleich darauf hin, daß auch ein anderer, kreativer Umgang mit der Geschichte möglich sei. So habe die Erinnerung an das Jahr 1918 – an den Sieg über das Wilhelminische Reich – es den Engländern erleichtert, das Jahr 1940, das zu den schwierigsten in der Geschichte des Landes zählte, zu überstehen.
Wenn man das Modell Namiers auf die heutige Zeit überträgt, so stellt der amerikanische Versuch, die westlichen Demokratiemodelle auf islamisch geprägte Länder auszudehnen, ein Beispiel für solch eine mechanische Übertragung von Geschichtserfahrungen auf neuartige Situationen dar. Dies wird von Gustav Seibt in seinem Artikel mit Recht kritisiert: „Der wünschenswerte Sturz Saddams wurde umstandslos mit dem Kampf gegen Hitler parallelisiert, die Demokratisierung des Iraks mit der Demokratisierung Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen, und die Chancen einer demokratischen Ausstrahlung auf den gesamten Nahen Osten legte man sich zurecht mit dem Ende des Ostblocks und der raschen Etablierung bürgerlicher Demokratien danach. Nur über den heutigen Irak und seine reale innere Lage wußte kaum jemand etwas zu sagen“.
Man könnte noch hinzufügen, daß die Verfechter solch mechanistischer Analogien folgendes außer acht ließen: Die Empfänglichkeit Deutschlands und der ehemals kommunistischen Staaten für demokratische Denkmodelle war nicht zuletzt damit verbunden, daß die Idee vom deutschen „Sonderweg“ durch Auschwitz und diejenige von der kommunistischen „lichten Zukunft“ durch den „Archipel Gulag“ völlig diskreditiert worden war. Angesichts dieses weltanschaulichen Vakuums war die Bereitschaft, westliche Ideen zu akzeptieren, besonders groß.
In der islamischen Welt hingegen läßt sich keine vergleichbare Erosion der traditionellen Wertvorstellungen beobachten. Im Gegenteil, nach einem vergeblichen Versuch, sich an solche westlichen Ideologien wie Nationalismus oder Marxismus anzulehnen, findet dort eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche religiöse Selbstverständnis statt. Die Ideen des durch und durch säkularisierten Westens rufen große Skepsis hervor.
Als Francis Fukuyama 1989 das „Ende der Geschichte“ verkündete, schienen alle Gefahren, die die offenen Gesellschaften bis dahin bedrohten, der Vergangenheit anzugehören. Das demokratisch-liberale Prinzip feierte Triumphe auf allen Kontinenten. Man fühlte sich an das Jahr 1918 erinnert als die demokratisch verfaßten Staaten einen beispiellosen Sieg über autoritäre Regime unterschiedlichster Art feierten und beinahe den ganzen Erdball, bis auf das isolierte Sowjetrußland, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Daß dieser Sieg keineswegs endgültig war, hat der einige Jahre später begonnene Siegeszug der diktatorischen Regime in Europa eindeutig gezeigt. Und auch die Wende von 1989 stellt bekanntlich kein „Ende der Geschichte“ dar. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, die das 21. Jahrhundert einläuteten, haben dies deutlich vor Augen geführt.
Welche Schlußfolgerungen werden die Verfechter der „offenen Gesellschaft“ aus dieser „Rückkehr der Geschichte“ ziehen? Werden sie auf die Gefahren, die diese Gesellschaft erneut bedrohen, adäquat reagieren? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet hierfür viele Lösungsversuche, wenn auch keine Patentrezepte, die man mechanisch auf die Situationen von heute übertragen kann. Anders als Gustav Seibt schreibt, bleibt die Geschichte auch heute noch die vielleicht wichtigste „Lehrmeisterin des Lebens“. Allerdings nur für diejenigen, die im Sinne Lewis Namiers einen kreativen Umgang mit ihr pflegen.
Leonid Luks