Politischer Realismus und Werturteile: Politisch-ethische Anmerkungen zu einer Kontroverse über Putins Russland

Zur Kritik an der Auffassung von Andreas Umland, der die These vertrat, die Periode Putin stelle für Russland eine vertane Chance dar, da in ihr die positiven Elemente von Demokratie und Pluralismus aus der Jelzin-Ära weitgehend beseitigt worden seien.

Im „Eurasischen Magazin“ (EM) wurde zwischen November 2008 und März 2009 eine Iheftige Kontroverse ausgetragen über die Bewertung der Präsidentschaften Jelzins und Putins in Russland. Den Anstoß gab ein Beitrag von Andreas Umland (EM, 1.11.08), der die These vertrat, die Periode Putin stelle für Russland eine vertane Chance dar, da in ihr die positiven Elemente von Demokratie und Pluralismus aus der Jelzin-Ära weitgehend beseitigt worden seien. Nach einigen scharfen Repliken trat Leonid Luks (EM, 1.1.09) seinem Mitarbeiter Umland (EM, 1.1.09) zur Seite; beide unterstrichen noch einmal die Zurückdrängung demokratischer Elemente und Strukturen im gegenwärtigen Russland, und Leonid Luks belegte historisch, diese seien in Russland keineswegs Fremdkörper, vielmehr seien sie mehrfach gewaltsam unterdrückt worden.

Die Kritik mehrerer Autoren an Umland und Luks hatte zwei Schwerpunkte. Zum einen sei die Ära Jelzin keineswegs so positiv, die Putins nicht so negativ zu sehen wie bei Umland. Zum anderen dürfe man die Entwicklung in Russland nicht einseitig mit westlich-liberalen Maßstäben messen, müsse vielmehr vielfältige sozio-kulturelle und geschichtliche Umstände berücksichtigen.

Zu dem ersten Einwand kann ich nichts weiter sagen; ich bin kein Historiker und Russlandkenner. Manches an den Einwänden gegen Umland scheint mir plausibel, so vor allem der mehrfache Hinweis auf die problematische, fast chaotische Situation Russlands am Ende der Ära Jelzin, und auf die Erfolge Putins im Wiederherstellen geordneter Zustände in Wirtschaft und Politik, was freilich einen hohen Preis hatte. Nimmt man diesbezüglich Kritik und Gegenkritik zusammen, so ergibt sich, wie häufig in der Betrachtung geschichtlich-politischer Vorgänge, ein gemischtes Bild, eher grau als schwarz oder weiß. Es bleibt aber festzuhalten, dass auch die Kritiker Umlands und Luks´ erhebliche Defizite der Ära Putin registrieren: Seine „autoritäre Modernisierung“ ist von schweren Mängeln an Transparenz und Kontrolle, an Offenheit gegenüber den durchaus vorhandenen zivilgesellschaftlichen Kräften und an rechtsstaatlichen Erfordernissen gekennzeichnet. Keiner der Kritiker würde Putin wohl mit Gerhard Schröder als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnen.

Damit sind wir beim zweiten Einwand der Kritiker gegen Umland und Luks: Diese mäßen Russland mit falschen, westlich-liberalen Maßstäben. Hier stellt sich die Frage nach den Bewertungskriterien und nach deren Legitimität, und dies soll uns im Folgenden beschäftigen. Vorderhand ist in diesem Punkt eine gewisse Widersprüchlichkeit bei einigen Kritikern festzustellen. Einerseits sollen keine „westlich-liberalen Maßstäbe“ an Russland angelegt werden; Kai Ehlers z. B. nennt sie eine „ideologische Brille“ (EM, 1.1.09). Andererseits setzen dann auch die Kritiker auf eine demokratisch-pluralistische Entwicklung Russlands. Wladislaw Below (EM, 1.1.09) glaubt, die Negativa der Ära Putin durchaus einräumend, eine ganze Reihe zivilgesellschaftlicher Elemente und positive Ansätze für die weitere Entwicklung in Russland feststellen zu können. Kai Ehlers hält den „sozialen Dialog“ der Regierung mit der Bevölkerung für entwicklungsbedürftig, „Demokratisierung“ für dringend geboten, also doch keine „ideologische Brille“? Alexander Rahr bescheinigt Umland die „gängige westliche Sichtweise“ auf Russland und konstatiert: „Den meisten Russen war und ist Demokratie weniger wichtig als staatliche Ordnung und nationale Würde. Liberale Menschenrechte sind weniger attraktiv als soziale Fürsorge“ (EM, 30.11.08). In einem zweiten Beitrag betont er aber mit Nachdruck, dass Russland sich selbst seit langem als europäisch und als Teil des heutigen Europas betrachte und dass es einen Weg zu einer „wertorientierten Partnerschaft“ mit dem Westen finden müsse. Welche Wertmaßstäbe dürfen, sollen, müssen wir also ins Spiel bringen gegenüber einem Land, das immerhin längst Mitglied des Europarates ist und sich also auch auf die Europäische Erklärung der Menschenrechte verpflichtet hat?

In zwei Punkten kann man, wie mir scheint, den Kritikern von Umland und Luks erheblich entgegenkommen. Zum einen hängt die Entwicklung Russlands zu einem offeneren, pluralistisch-demokratischen System auch vom Maß politischer Klugheit ab, mit der westliche Politik (EU, NATO, USA) die gegenseitigen Beziehungen positiv zu gestalten versucht. Politik ist immer ein Handeln in Interdependenzverhältnissen, in Zug und Gegenzug. Das braucht man hier nicht weiter auszuführen; auch nicht, dass unter diesem Aspekt manche Züge westlicher Politik als problematisch angesehen werden können. Zum anderen ist der bei mehreren Autoren zu findende Hinweis hilfreich, dass Demokratie in sehr unterschiedlichen Formen realisierbar ist, die den spezifischen Verhältnissen je einzelner Länder Rechnung tragen können. Es gibt bekanntlich monarchische und republikanische, präsidiale und parlamentarische, zentralistisch und föderalistisch strukturierte Demokratien; es gibt eher repräsentativ und eher plebiszitär geformte Demokratien. Hinzu kommen sehr unterschiedliche Formen eines allgemeinen Wahlrechts, die zu unterschiedlichen  Regierungsformen führen. Schließlich gibt es sehr verschiedenartige und in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befindliche Parteiensysteme, die gemessen an den funktionalen Erfordernissen von Demokratie nicht selten erhebliche Defizite aufweisen. Unter all diesen Aspekten darf man in der Tat nicht alles über einen Leisten schlagen wollen.

Aber ich sehe nicht, dass Umland und Luks in ihrer Kritik am gegenwärtigen Russland auf einer bestimmten Form von Demokratie insistierten. Vielmehr ging es ihnen ersichtlich um Grunderfordernisse und Bedingungen der Möglichkeit freiheitlich-rechtsstaatlicher Ordnung, um die grundlegenden Menschenrechte, um Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und gesellschaftlichen Pluralismus. In diesen Punkten sollten wir in der Tat keine Abstriche machen gegenüber Ländern, die den Anspruch erheben, zum Kreis der europäischen Demokratien zu gehören. Mein Eindruck aus der Kontroverse ist der, dass sich in dieser Hinsicht die meisten Diskutanten einigen könnten.

Das kann man freilich nicht sagen bezüglich der beiden Beiträge von Rudolf Maresch. Sie sprengen den Rahmen der Russland-Kontroverse, indem sie den gesamten asiatischen und damit teils auch den islamischen Raum einbeziehen, und sie machen mit ihren zugespitzten, teils polemischen Urteilen die Frage nach angemessenen Urteilskriterien viel dringlicher als die anderen Beiträge. Mareschs Position fordert eine eigene Auseinandersetzung, in der ich mich hier auf die politiktheoretischen und politisch-ethischen Aspekte konzentriere.

In seinem ersten Beitrag (EM, 1.1.09) wirft Maresch Umland vor, er bediene sich eines überholten idealtypischen und zweiwertigen Beobachtungsmusters. Dann bringt er eine lose gefügte Kette von Argumenten gegen den „Glauben“ an die Vorherrschaft liberaler Demokratie: Im asiatischen Raum seien Systeme im Vormarsch, die Autokratie und Wohlstand als vereinbar erwiesen; Modernisierung laufe also keineswegs zwangsläufig auf Demokratie hinaus. Den Menschen seien in ihrer „anthropologischen Bedürftigkeit“ Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Thomas Hobbes und Bert Brecht sind seine Gewährsleute für diese einfach gestrickte politische Philosophie, die er gegen Umlands „universalistischen Werte“ ins Feld führt. Hinzu kommt für ihn als gewichtiges Argument, dass der demokratische Westen keineswegs moralisch unbefleckt dastehe, dass ihm vielmehr erhebliches Fehlverhalten anzulasten sei. Schließlich könnten freie Wahlen fundamentalistische Akteure an die Macht bringen. Schon Gorbatschow sei mit seiner Politik zum „Totengräber“ des sowjetischen Imperiums geworden, und Putins Ordnungsmaßnahmen hätten das Chaos und die oligarchische Herrschaft der Jelzin-Ära beseitigt. Das mündet dann in ein Plädoyer für „politischen Realismus“ gegen eine „politische Theologie der Menschenrechte“ und in die Frage, ob nicht überhaupt die liberale Demokratie ein Auslaufmodell sei.

Wer in Fragen politischer Theorie und Philosophie einigermaßen bewandert ist, kann nur staunen über dieses wenig konsistente Konglomerat von Argumenten. In seinem zweiten Beitrag (EM, 1.3.09) ist Maresch kaum überzeugender. Eine Bestandsgarantie für die Zukunft der Demokratie könne es nicht geben – als ob das jemand behauptet hätte. Es seien erhebliche Machtverschiebungen im Gange, das Ende der europäisch-amerikanischen Dominanz nahe, und die Welt kehre zum „Normalzustand“ zurück – was immer das sein mag. Zustimmen kann man Mareschs Aussage, die Verschiebung der globalen Gewichte erfordere Kooperation. Aber dann führt er wieder die „Effizienz“ autoritärer Systeme gegen die „Haus- und Hofphilosophie“ von Leonid Luks ins Feld, bringt seinen „politischen Realismus“ gegen „Werte und Ideale“ in Stellung, welche ja zudem diskreditiert seien durch die Sünden der Demokratien – siehe die Kriege der Demokratie Israel.

Man weiß nicht recht, wo eine sinnvolle Auseinandersetzung mit Maresch beginnen soll, weil er durchgehend Fakten, Prognosen und Wertungen argumentativ miteinander vermengt, seine Prognosen mit hoher Gewissheit vorträgt und seine Wertungen als Rundumschläge austeilt. Immerhin stellt er zum Schluss fest, man könne nicht wissen, wie es in der Konkurrenz der Weltmächte weitergeht. Aber das ist eine banale Feststellung, und sie enthebt uns keineswegs der Frage, wie es denn nach unseren Wertvorstellungen weitergehen solle und wie denn die so gepriesene „Effizienz“ der aufstrebenden autoritären Systeme zu beurteilen sei. Mareschs Realismus läuft auf die platte Feststellung hinaus: Was ist und was Erfolg hat, ist auch richtig. Das hatten wir schon. Deshalb sei hier versucht, zu einigen politiktheoretisch-philosophischen Fragen, die Maresch durcheinander bringt, ein paar Klärungen beizutragen.

Zunächst fällt auf, dass Maresch sich in einem fundamentalen Selbstwiderspruch bewegt. Sein Hauptvorwurf gegen Umland und Luks lautet, sie mäßen Russland mit westlichen Maßstäben. Dabei scheint er nicht zu bemerken, dass sein eigener „politischer Realismus“, mit dem er die Effizienz der aufstrebenden asiatischen Systeme lobt, selbst auf westlichen Maßstäben und Wertungen beruht. Seine theoretischen Gewährsleute heißen Thomas Hobbes und Bert Brecht, unbestreitbar westliche Autoren. Mareschs Realismus ist ein Produkt westlichen Denkens. Es ist aber zugleich ein sehr kruder Realismus, weil Maresch nicht einmal seine eigenen Gewährsleute zu Ende denkt. Nach Brecht kommt zuerst das Fressen, dann die Moral. Aber auch diese „kommt“ eben bei Brecht; er war ein Moralist von hohen Graden. Maresch jedoch braucht für seine Theorie keine Moral. Der Rekurs auf Werte, schreibt er, sei „kontraproduktiv“. Die Frage, welches politische Modell mittelfristig das effizientere sein werde, sei höchstens macht- und geopolitisch interessant. Seine Kriterien für Effizienz sind ausschließlich materieller Fortschritt („Fressen“)  und Sicherheit.

Aber selbst bei Hobbes, dessen Leviathan Maresch zum „Grundtext jeder Staatstheorie“ erklärt (ein westlicher Grundtext!), steht für Sicherheit ein hoher Wertbegriff: der Friede. Es wäre der Mühe wert, den ethischen Gehalt dieses Friedens bei Hobbes zu prüfen, statt ihn gegen andere ethische Werte auszuspielen.

Dass Sicherheit der Basiswert politischer Ordnung ist und höherrangige Werte erst auf dieser Basis wichtig und realisierbar werden, ist Erkenntnis alteuropäischer politischer Philosophie. Nach Aristoteles entsteht die Polis um des Überlebens der Menschen willen, sie wird aber dann geformt um des guten Lebens willen. Die anthropologische Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass Menschen „Moral“ brauchen, nämlich gemeinsame kulturell-sittliche Orientierungen, die das Zusammenleben und die freie Entfaltung im Miteinander ermöglichen. Maresch glaubt das als „Haus- und Hofphilosophie“ oder auch als „politische Theologie“ abqualifizieren zu können. Aber exakt in diesem sittlichen Bedürfnis der Menschennatur liegt der Grund dafür, weshalb autoritäre und erst recht totalitäre Systeme auf Dauer sich selbst gefährden. „Auf Bajonetten kann man nicht gut sitzen“, sagte der Machtmensch Talleyrand. Die Frage nach Legitimität und Legitimation politischer Herrschaft lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken. Jedes System muss versuchen, sie so zu beantworten, dass es nicht immer nur auf Zwang zur Selbsterhaltung angewiesen ist.

Eben deshalb gibt es auch noch andere „Grundtexte“ europäischer Staatstheorie, was Maresch doch hoffentlich weiß. Hobbes gründet seinen Leviathan auf ein pessimistisches Menschenbild: Der Mensch ist des Menschen Wolf. John Locke geht dagegen von Vernunft und Freiheitsrechten des Menschen aus und kommt zu einer konstitutionellen Ordnung. Bei Rousseau schlägt ein ursprünglicher Individualismus in die kollektive Ordnung des Gesellschaftsvertrages um. Immanuel Kant begründet die rechtsstaatliche Republik aus der sittlichen Autonomie der Person und macht deren Würde zum Legitimationsgrund des republikanisch regierten Staates. Nach Montesquieu ist die Gewaltenteilung das zentrale Element solcher republikanischen Regierung. Erst sie gibt den Bürgern Sicherheit, weil diese nicht nur gegen den inneren und äußeren Feind nötig ist, sondern auch gegenüber der Staatsgewalt selbst. Das übergeht Maresch völlig.

Aus diesem Fundus europäischer politischer Philosophie stammen die ethischen Kategorien, mit denen wir politische Ordnungen und praktizierte Politik ethisch beurteilen. Sollen, müssen wir das alles über Bord werfen, weil uns aus anderen Traditionen Universalisierung unserer Werte vorgeworfen wird? Ein Vorwurf, der übrigens erst einmal zu prüfen wäre.

Die Herkunft dieser Ideen aus der europäischen Tradition steht außer Frage. Aber man darf auch fragen, ob es nicht Anknüpfungspunkte für sie auch in anderen Kulturen gibt. Bekanntlich findet sich die Goldene Regel auch in außerwestlichen Denktraditionen. Sie ist Ausdruck gegenseitigen Respekts der Menschen in ihrer anthropologischen Gleichheit; sie ist der Ursprung der Idee der Gerechtigkeit und des Verlangens der Menschen nach Recht im Miteinander und gegenüber dem Staat. Es gibt viele Erfahrungsgründe dafür, dass dieses Verlangen sich in keinem System völlig unterdrücken lässt und dass der fortgesetzte Versuch der Unterdrückung auf längere Sicht dem System selbst schadet. Im übrigen, Universalisierung hin oder her, auch Menschen, die in China oder Burma willkürlich eingesperrt oder gefoltert werden, empfinden das als Unrecht. Rechtsempfinden und Freiheitsverlangen entzünden sich in der Regel an erfahrenem, erlittenem Unrecht. Das war und ist in Europa und Amerika nicht anders als in anderen Regionen der Erde.

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch der von Maresch penetrant vorgebrachte Einwand gegen westliches Beharren auf Menschenrechten und Demokratie, die liberalen Demokratien verstießen selbst fortwährend gegen ihre Werte, als zu kurz gedacht. Braucht man etwa keine Ethik, weil gegen sie verstoßen wird? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir brauchen garantierte Menschenrechte und Institutionen der Kritik, der Kontrolle und der Opposition doch gerade deshalb, weil die Mächtigen allenthalben versucht sind, ihre Macht ungebührlich auszudehnen und zu missbrauchen. Rechtsstaatliche Demokratie verheißt keine paradiesische Gesellschaft, ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung, dass es diese nicht gibt; Ausdruck der Fehlbarkeit aller Menschen, zumal auch der Herrschenden, und also der Notwendigkeit, diese auch in die Schranken weisen zu können. Wenn Maresch, übrigens allzu undifferenziert, dem „Westen“ Sünden und Fehler ankreidet, dann müsste er doch auch fragen, ob diese Sünden nicht noch zahlreicher und schwerer wären, wenn es die Kritik-, Kontroll- und Wechselmöglichkeiten rechtsstaatlicher Demokratie nicht gäbe. Wie schlimm wäre dieser böse Westen denn dann erst?

Es ist also Ausdruck eines sehr oberflächlichen Denkens, wenn Maresch das Argument von Leonid Luks auf den Mangel an solchen Selbstheilungskräften in autoritären Systemen leichthin vom Tisch wischt. Der tschechisch-amerikanische Politikwissenschaftler K. W. Deutsch hat bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prognostiziert, die kommunistischen Diktaturen von damals könnten länger als noch eine weitere Generation kaum bestehen bleiben, weil sie ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte der Korrektur und der Lernfähigkeit blockierten. Prognosen sind gewiss immer problematisch, aber diese hat sich bewahrheitet.

Was also Maresch als seine Philosophie eines „politischen Realismus“ verkündet, ist arg kurz gedacht. Es gibt im politikwissenschaftlichen Diskurs in Amerika wie in Europa seit Jahrzehnten Wissenschaftler, die sich einer „realistischen Theorie“ der Politik bedienen. Wenn Maresch den Begriff aufnimmt, sollte er davon wissen. Diese Theorie sieht Politik im Kern von drei Antriebskräften bestimmt, von Interessen, von Macht und von Moral. Selbstverständlich entspringt politisches Wollen immer bestimmten Interessen und bedient sich politisches Handeln in der Konkurrenz der Interessen der Mittel der Macht. Das ist banal, und deshalb braucht man es nicht mit dem Gestus der Enthüllung vorzutragen. Realistische Politikwissenschaftler wissen das und analysieren es mit ihrem methodischen Instrumentarium. Sie wissen aber auch, dass man gerade deshalb die Frage nach der „Moral“ der Politik nicht auslassen darf; nach ihrer Moral sowohl als Frage nach tiefergründenden Überzeugungen, aus denen Menschen, Menschengruppen und Staaten ihre Interessen definieren – denn diese sind ja nicht einfach objektiv vorgegeben; wie auch als Frage nach Kriterien zur ethischen Beurteilung dessen, was die jeweiligen Machthaber treiben.

Wer auf diese Dimensionen einer Theorie von Politik verzichtet, dessen „Realismus“ landet im blanken Machiavellismus oder im Zynismus. Die „Effizienz“ einer politischen Ordnung kann man dann auf willkürlich gesetzte Ziele beziehen. Effiziente Systeme ohne Moral haben wir im 20. Jahrhundert hinlänglich erlebt und erlitten.

Vor der Frage nach der Effizienz steht immer die nach der Legitimation der Ziele und der Legitimität der Herrschenden. Daraus ergeben sich die Forderungen nach Transparenz, nach Kontrolle, nach Partizipation und nach Korrekturmöglichkeiten. Unabhängig davon, in welchen Formen von Demokratie diese Erfordernisse institutionelle Gestalt gewinnen, bleibt deshalb die These plausibel, dass Systeme, die diesen Erfordernissen zu wenig oder gar nicht Rechnung tragen, sich auf Dauer nicht werden halten können. Sie zerstören ihre eigenen gesellschaftlichen Grundlagen. Man muss diese These nicht europäischem Überlegenheitsgefühl oder gar mit Anmaßung vortragen. Sie ist aus allgemein menschlichen und aus vielen geschichtlichen Erfahrungen gut begründbar. Deshalb sollten wir für die liberale Demokratie streiten, gerade wenn und weil sie durch autoritäre Systeme neu in Frage gestellt wird; und wir dürfen auch in wissenschaftlichen Analysen alle Regime beim Wort nehmen, die beanspruchen, rechtsstaatliche Demokratien zu sein.

Bernhard Sutor