Teilnehmerbericht zum Workshop „Die Aktualität des Gewissens“ in Trier

Ist die Berufung auf das eigene Gewissen ethisch, aber auch juristisch, noch von Bedeutung? Was heißt es, das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in Anspruch zu nehmen? Wo und wie wird heute konkret auf das Gewissen Bezug genommen? Welche Relevanz kommt dem Gewissen aus philosophischer Sicht zu? Diese und ähnliche Fragestellungen standen vom 15.-17. Dezember bei einem Workshop an der Universität Trier zum Thema „Die Aktualität des Gewissens: Perspektiven der Rechts- und Geisteswissenschaften“ im Mittelpunkt. Referentinnen und Referenten aus Sprach- und Literaturwissenschaft, Experten aus dem Bereich der Rechtsprechung sowie Philosophen und Theologen diskutierten an drei Tagen interdisziplinär über verschiedene Zugänge zur Gewissensthematik und tauschten sich über ihre vielfältigen Forschungsperspektiven aus – unter ihnen auch drei Teilnehmer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Der Workshop begann mit einer dem eigentlichen Thema vorgeschalteten literarischen Sektion. Den Eröffnungsvortrag hielt Professor Michail Odesskij, der die Verdrängung des Gewissensbegriffs der Tradition, der an Gott und / oder die Wahrheit geknüpft ist, durch die Bindung an Ideologeme in der Sowjetliteratur darstellt. Anschließend hielt die Schriftstellerin Kathrin Schmidt eine Poetikvorlesung anhand eigener Gedichte, die während der Pandemie entstanden und ihre Gewissensreflexionen poetisch verkörperten. Dr. Matthias Fechner skizzierte daraufhin, wie die Gewissensthematik in der Gegenwartsliteratur bearbeitet wird und wie sich die Behandlung von Gewissensentscheidungen und -fragen speziell im 20. und 21. Jahrhundert entwickelt und verändert hat, wobei er insbesondere Bezüge zu den Werken von Juli Zeh, Christa Wolf und Kathrin Schmidt herstellte.

Die Arbeit am eigentlichen Thema des Workshops eröffnete Henrieke Stahl mit einer Diskussion des Dossiers zum „Verhältnis von Artikel 4 GG zu einer allgemeinen Impfpflicht“ (14.1.2022) des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Als Kernproblem zeichneten sich eine Aushöhlung des Gewissensbegriffs und zugleich ein hoher Grad an Unspezifik für die Anwendung des Artikels 4 GG ab. Daraus leitete Frau Stahl Perspektiven für den Workshop ab, den Gewissensbegriff zu stärken und methodische sowie argumentative Ansätze mit Blick auf reale Anwendungsmöglichkeiten des Artikels 4 GG zu entwickeln.

Mit seinem Vortrag „Würde ist leiblich“ brachte der Philosoph Andreas Brenner dann verschiedene Ansätze zur Zuordnung von Menschenwürde, Leiblichkeit und Gewissen miteinander ins Gespräch, wobei er besonders auf die Philosophen Immanuel Kant, Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz zu sprechen kam – und ausführte, dass Letzterer trotz eher verhaltenem Interesse aus der akademischen Welt besonders bei „Praktikern“, bei Medizinerinnen und Medizinern sowie Pflegekräften für seine Ausführungen zur engen Verschränkung von Leiblichkeit, Würde und Personalität geschätzt wird.

Mitten in die Auseinandersetzung mit einer konkreten „Gewissensfrage“ für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führte dann Prof. Roland Wiesendanger am Beispiel der sog. „Gain-of-function“-Forschung ein, anhand derer er sich auch der Frage, wie weit die Freiheit der Wissenschaft gehen dürfe, kritisch näherte. Bei der genannten Forschung geht es um eine „Optimierung“ von Krankheitserregern im Sinne einer besseren Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch, welche dazu dienen soll, künftigen pandemischen Entwicklungen voraus zu sein, jedoch u. U. zum Preis eines erheblichen mit der Forschung an solchen Erregern einhergehenden Gefahrenpotenzials.

Um „Gewissensfreiheit und die Legitimation von Zwang“ ging es dann im Vortrag von Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld: Vom Leitgedanken ausgehend, bei der Legitimation des Staates gehe es letztlich auch um die Legitimation von Zwang ohne Konsens, führte Prof. Esfeld durch die Themenfelder von Naturrecht, Gewissensfreiheit, der Konzeption des republikanischen Rechtsstaats und der Zivilcourage.

Danach begann der juristische Teil der Tagung mit einem Vortrag von Prof. Gerd Morgenthaler, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht unter Berücksichtigung europäischer und internationaler Bezüge an der Universität Siegen. Prof. Morgenthaler führte ein in die verfassungsrechtliche Bedeutung der Gewissensfreiheit, wobei er ausgehend von Urteilen der höchsten deutschen Gerichte drei Kriterien (konkretes Ge- oder Verbot, sittlicher Bezug, Charakter einer auch außerhalb des Einzelfalls gültigen Pflicht) darstellte, wie das besagte Grundrecht juristisch Verwendung findet. Mit Beispielen aus der aktuellen Anwaltspraxis unterfütterte Bernhard Ludwig die juristische Debatte und gab den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops auch Gelegenheit, die Fälle anhand rechtlicher Kriterien zu diskutieren und zu erwägen, inwieweit eine Berufung auf das Gewissen im jeweiligen Fall vor Gericht standhalten würde. Den Abschluss des juristischen Teils übernahm Prof. Günter Reiner von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit einem Vortrag zur Gewissensthematik im Privatrecht.

Den Einstieg in die theologische Debatte ebnete dann Pfarrer Martin Michaelis aus Quedlinburg mit einem Vortrag zu Freiheit und Gewissensverbundenheit bei Martin Luther. Pfarrer Michaelis erläuterte exemplarisch anhand von Schriften und Briefen Martin Luthers, wie das Gewissensthema dessen Leben und Werk durchzieht, und stellte von dort aus insbesondere Bezüge zu Luthers Einsatz für arme, einfache Menschen und seine Unerschrockenheit gegenüber den Mächtigen her.

Daran schloss sich zunächst eine phänomenologische Skizze zum Gewissen an, die Dr. Henning Nörenberg vorstellte und in der er Strukturmomente des Gewissens wie existentielle Intimität, ursprüngliche Freiheit der Initiative und den Anspruch auf Kontinuität und Kohärenz benannte, um dann auf das Thema Gewissensbildung zu sprechen zu kommen und dort v. a. die Bedeutung unterschiedlich akzentuierter moralischer Grundintuitionen und verschiedenartig ausgeprägter moralischer Sensibilitäten behandelte. Daran anschließend brachte Prof. Markus Riedenauer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt den Gewissensbegriff Martin Heideggers in die Diskussion ein und verortete diesen im Geflecht der Philosophie Heideggers, indem er als wesentliche Figuren die scharfe Abgrenzung vom „Man“, den Ruf zum Sein- und Ganzseinkönnen sowie als Kontrastfolie die uneigentliche Existenz und die Orientierung am bloßen „Besorgen“ umriss.

Dr. Christian Jung, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, brachte dann unter dem Titel „Mystik im Widerstand – Der göttliche Ursprung des Gewissens am Beispiel Meister Eckharts“ einen weiteren genuin theologischen Ansatz in die Diskussion ein, indem er den Bereich des Gewissensbegriffs auch auf die Theorie als Grenzfall der Praxis zu erweitern suchte und eine Gewissensphänomenologie skizzierte, die Vorgänge wie Verheißung und Ahnung, Selbsterkenntnis, Prophetie und Schau umfasste. Dabei verwies er auf die zahlreichen Bezeichnungen, die Meister Eckhart für den „ungeschaffenen Seelengrund“ kennt und zu denen auch die synteresis gehört, ein mittelalterlicher Terminus für das Gewissen in seiner das Göttliche im Menschen bewahrenden Bedeutung. Ebenfalls aus theologischer Sicht ging dann Prof. Jan Dochhorn auf Themen wie die Kompetenz (und Kompetenzbegrenzung) der Obrigkeit, die Bedeutung des Staats bei Jesus und Paulus sowie den Gewissensbegriff bei Paulus und Lukas ein, um davon ausgehend eine Aktualisierung für die heutige Zeit zur Diskussion zu stellen, wobei er festhielt, dass es für Christen grundsätzlich keine apriorischen Festlegungen gebe, was zu tun sei; was der Liebe entspricht, sei jeweils im Gewissen unter Verantwortung vor Gott zu klären, also situativ. Der Erziehungswissenschaftler und Sozialethiker Bernd Kunze stellte anschließend seine Sicht auf die Themen „Kompromiss, Gewissen und rote Linien“ vor und suchte zu beantworten, „warum alle drei politisch zusammengehören“: Dabei präsentierte er mehrere theologische Entwürfe zur politischen wie existentiellen Bedeutung des Kompromisses und stellte heraus, wie moderne Verfassungen mit der Gewissensfreiheit eine „Leerstelle“ setzen, die durch die Freiheit des Einzelnen zu füllen sei. Den letzten Vortrag der Tagung hielt Justin Veit, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart an der Universität Eichstätt-Ingolstadt, zu seinem Promotionsthema, das er für den Workshop unter die Überschrift „Gewissensregung und leibhaftige Begegnung: Überlegungen zur Archäologie und Aktualität des Gewissens“ stellte. Ausgehend vom Bedeutungsverlust der Gewissensthematik in der zeitgenössischen Philosophie führte Justin Veit zu den Entstehungszeugnissen des Gewissensbegriffs in der Antike zurück und suchte von dort aus ein neues Licht auf das Gewissensphänomen zu werfen, das v. a. dessen Erleben als unmittelbare Regung in konkreten personalen Handlungskonstellationen in den Fokus rückte.

Am Ende der Tagung eröffnete die Organisatorin Prof. Henrieke Stahl die Abschlussdiskussion mit einigen Gedanken zu sophiologischen Perspektiven auf Gewissen und Leiblichkeit. Damit endete ein facettenreicher Workshop mit intensivem transdisziplinären Austausch und dem festen Vorhaben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Thematik weiter zu vertiefen – ein Tagungsband ist bereits in Planung.