Verzerrte Wahrnehmungen

Der beeindruckende Bericht des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel über seinen Leidensweg in den Konzentrationslagern Buchenwald und Dora wie auch über die Schrecknisse des KZ-Alltags im Allgemeinen („Wie ich Buchenwald und andere Lager überlebte“, in: F.A.Z. vom 21. Januar 2011) enthält ein überraschendes Fazit, das sehr befremdlich klingt.

Hessel befasst sich hier nämlich mit dem Charakter der  national-sozialistischen Besatzungspolitik in Frankreich, die er in recht milden Tönen beschreibt. Sie sei wesentlich harmloser gewesen als die „heutige Besetzung von Palästina durch die Israelis“.  Bei der NS-Herrschaft in Frankreich habe es sich, fährt Hessel fort, „um eine Besatzungspolitik (gehandelt), die positiv wirken wollte und deshalb uns Widerstandskämpfern die Arbeit  so schwermachte“.

Bei seiner Schilderung lässt Hessel allerdings außer Acht, dass die nationalsozialistische Herrschaft in Frankreich untrennbar mit dem Holocaust verbunden war, mit der Ermordung von mehr als  73.000  Juden, die zu der Zeit in Frankreich lebten. Seit März 1942 rollten ununterbrochen  die Judentransporte aus Frankreich nach Auschwitz  – der letzte im August 1944, kurz vor der Befreiung von Paris durch die Truppen der Alliierten.

Die Auslöschung eines beträchtlichen Teils der in Frankreich lebenden Juden trübt aber das im Wesentlichen milde Urteil, das Hessel über das deutsche Besatzungsregiment fällt, kaum. Diese unbegreifliche Verharmlosung der NS-Politik geht Hand in Hand mit einer Dämonisierung Israels. Es ist zwar völlig legitim, die israelische Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten zu kritisieren, dies tun bekanntlich auch viele Israelis. Hessel sprengt aber mit seiner Kritik alle vertretbaren Maßstäbe, indem er die Politik Israels mit derjenigen eines totalitären Regimes gleichsetzt, das aus ideologischen Gründen systematisch die völlige Ausrottung bestimmter Bevölkerungsteile in den besetzten Ländern betrieb. Mehr noch, Hessel geht sogar über die  Gleichsetzung hinaus und behauptet, die Besatzungspolitik Israels übertreffe in ihrer Härte wesentlich diejenige des NS-Regimes in Frankreich. Diese These verzerrt in einem solchen Ausmaß die wahren Sachverhalte, dass man an der Fähigkeit des Autors, die Realität wahrzunehmen, zweifeln muss.

Leonid Luks