Was ist totalitär?

In seinem Beitrag „60 Jahre und kein bisschen heilig“ (Die Zeit, Nr. 20, 7. Mai 2009) wendet sich Horst Dreier gegen die Verklärung des Grundgesetzes und warnt die Bundesrepublik davor, den Weg der USA zu beschreiten, in denen „der Streit um die Auslegung der allgemein vergötterten Constitution mit einer Vehemenz ausgetragen [wird], wie sie in Europa und Deutschland glücklicherweise noch nicht (ganz) durchschlägt“. Dreier hält die emotionsgeladene Einstellung der Amerikaner zur Verfassung für totalitär und schreibt: „Die Identifizierung von Recht und Moral ist ein unverwechselbares Signum totalitärer Staaten“. Durch diesen Vergleich lässt Dreier außer Acht, dass zum Wesen der totalitären Staaten nicht nur die moralisierende Attitüde, sondern auch, und vor allem, die vollkommene Aufhebung der Gewaltenteilung gehört.

Der nationalsozialistische Maßnahmenstaat (Ernst Fraenkel) verkörperte geradezu die totale Willkür. Das Gleiche galt auch für den sowjetischen Staat, der bereits in seiner ersten Verfassung vom Juli 1918 die Gewaltenteilung offiziell aufhob. Das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee der Räte wurde hier als „das höchste  gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“ Russlands bezeichnet.[1]

Zu der besonderen Perfidie der totalitären Staaten gehört aber nicht nur die Aufhebung der Gewaltenteilung, sondern auch die Verschleierung der wahren Machtverhältnisse.  Auch dieses Faktum wird im Beitrag von Horst Dreier mit keinem Wort erwähnt. So stellte im sowjetischen Staat das angeblich allmächtige Zentrale Exekutivkomitee der Räte in Wirklichkeit nur eine Marionette der bolschewistischen Partei dar.  Die Partei als wahre Alleinherrscherin Russlands bzw. der UdSSR wurde aber in den beiden ersten sowjetischen Verfassungen (von 1918 und von 1924) nicht einmal erwähnt.

Warum lehnten die Bolschewiki es ab, die Alleinherrschaft der Partei auch verfassungsmäßig zu verankern? Dieses Verschleiern der wahren Machtverhältnisse war durchaus beabsichtigt. Die Willkür der Herrschenden wurde dadurch keinen formalen Schranken unterworfen. So wurden die Bolschewiki zu Wegbereitern des ersten totalitären Staates der Moderne, dessen Wesen darin besteht, dass er keine  gesetzlichen Schranken kennt, ohne dies jedoch offen zuzugeben.  Daher rührt die Vorliebe der totalitären Regime für fassadenhafte Einrichtungen, die ihre Herrschaft zwar legitimieren, aber in keiner Weise begrenzen. So hielt die nationalsozialistische Führung in Deutschland es nicht für erforderlich, nach der Machtübernahme im Jahre 1933 die Weimarer Verfassung formell abzuschaffen. Die Nationalsozialisten regierten nicht zuletzt mit Hilfe des vom Reichstag bewilligten Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933, das der Reichstag – inzwischen eine Marionette des Regimes – 1937 und 1939 in grotesk anmutenden Zeremonien wiederholt erneuerte.[2] Dies verlieh der neuen Willkürherrschaft zumindest den Anschein der Legalität. Für ähnliche Zwecke benötigten die Bolschewiki die Fassade der Sowjetlegalität

Da von einer Aufhebung der Gewaltenteilung in den USA, wie sie für das NS-Regime und für die bolschewistische Diktatur typisch waren, keine Rede sein kann, führt der Versuch Dreiers, das US-System aufgrund der „Sakralisierung der Verfassung“ in die Nähe der totalitären Regime zu rücken, zur Verkennung der zentralen Wesensmerkmale des Totalitarismus, wie sie die Totalitarismusforschung der letzten achtzig Jahre so detailliert ausgearbeitet hat.

Was die in den USA verbreitete Neigung betrifft, „ewige Verfassungswerte mit religiöser Inbrunst“ auch außerhalb der USA zu verteidigen, so wird sie von Dreier im Hinblick auf die Administration von Bush Junior sicher mit Recht kritisiert. Einen wichtigen Punkt lässt der Verfasser allerdings außer Acht. Dieser Bereitschaft der Amerikaner, sich für die „ewigen Verfassungsrechte“ einzusetzen, haben es die Europäer nicht zuletzt zu verdanken, dass sowohl Hitlers Griff nach der Weltherrschaft als auch Stalins Drang nach der  Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs  bis zum Atlantik  (nach 1945) letztendlich gescheitert sind.

Diese Replik möchte ich mit folgender Bemerkung abschließen: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich Horst Dreier bei seiner Kritik an der emotionellen Einstellung zum demokratischen Verfassungsstaat ausgerechnet auf den Staatsrechtler Ernst Forsthoff beruft. Denn gerade Forsthoff gehörte seinerzeit zu den schärfsten Gegnern der von Dreier wegen ihrer „Nüchternheit“ so gelobten Weimarer Verfassung. In Anlehnung an Carl Schmitt beklagte sich Forsthoff z.B. über die Herrschaft der trockenen und unpersönlichen Normen in den modernen Verfassungsstaaten. In seinem Buch „Der totale Staat“ (1933) schrieb er: „Ehre, Würde, Treue […] entziehen sich der normativen Sicherung und Institutionalisierung […]. Der reine Rechtsstaat, das heißt der Staat, der sich existenziell erschöpft in einer Rechts- und Ämterordnung, ist der Prototyp einer Gemeinschaft ohne Ehre und Würde“.[3]

 Leonid Luks


[1] Helmut Altrichter, Hrsg.: Der Sowjetstaat. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 1: Staat und Partei, München 1986, S.149.

[2] Michael Ruck: Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge – Verfassungsstruktur des NS-Staates, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen, Hrsg.: Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 1992, S.32-56, hier S.35f.

[3] Ernst Forsthoff: Der totale Staat, Hamburg 1933, S.13.