3 Fragen - 3 Antworten zum apostolischen Schreiben "Amoris Laetitia"

In den Jahren 2014 und 2015 hatte Papst Franziskus zu außerordentlichen Bischofssynoden geladen, die sich mit Fragen von Ehe und Familie in der Gesellschaft beschäftigten. Im Nachgang dazu veröffentlichte der Papst nun das apostolische Schreiben "Amoris Laetitia", welches weltweit

lebhafte und kontroverse Resonanz gefunden hat. Wir haben Prof. Dr. Katharina Westerhorstmann (Lehrstuhlvertreterin für Moraltheologie an der KU) sowie Prof. Dr. Klaus Stüwe (Direktor des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der Gesellschaft an der KU) um eine Einschätzung des Schreibens gebeten.

Papst Franziskus ermutigt in seinem Schreiben dazu, "dort selbst Zeichen der Barmherzigkeit und Nähe zu sein, wo das Familienleben nicht vollkommen verwirklicht oder sich nicht Frieden und Freude verwirklicht". Er will, wie er weiter schreibt, die "aktuelle Situation der Familien betrachten, um ,Bodenhaftung' zu bewahren". Wie nah ist das Dokument an die Familien gekommen?

Prof. Dr. Katharina Westerhorstmann: Der Papst geht sehr genau auf die unterschiedlichen Herausforderungen ein, in denen Familien heute  weltweit stehen. Auch kulturelle Unterschiede werden benannt wie das Problem von Polygamie oder arrangierten Ehen oder eben auch die in der westlichen Welt relevante Frage nach den zivil wiederverheirateten Geschiedenen. Die Sprache des Papstes ist dabei zugleich unbefangen und verbindlich, persönlich und doch begrifflich klar.  Wie in seinen Ansprachen bei Audienzen wird Franziskus dabei auch sehr konkret, indem er Hilfen für den Umgang miteinander innerhalb der Familie für den Alltag anbietet. Versöhnung nicht aufzuschieben, sondern Streit möglichst noch am selben Tag beizulegen gehört ebenso zu den päpstlichen Vorschlägen wie der morgendliche Kuss der Ehepartner als Ausdruck, dass man einander an diesem neuen Tag erneut erwähle. Die Perspektive von Franziskus ist dabei jeweils geleitet von der Maßgabe, wie es gelingen könne, dass die Familie in sich für die Einzelnen Schutz- und Entfaltungsraum sein und dabei ebenso für das Umfeld zu einem missionarischen Instrument der Nächstenliebe und Annahme von Menschen in Not werden könne. Insbesondere für Menschen und Familien in Not sollten sich christliche Familien öffnen. Ziel des päpstlichen Schreibens ist es daher letztlich, „alle [zu] ermutigen, dort selbst Zeichen der Barmherzigkeit und der Nähe zu sein, wo das Familienleben sich nicht vollkommen verwirklicht oder sich nicht in Frieden und Freude entfaltet“ (AL 5)

Prof. Dr. Klaus Stüwe: Ehe und Familie sind für die allermeisten Menschen gelebte Realität und Ideal. Als Ort, an dem Kinder geboren und erzogen werden, und als Solidargemeinschaft bis ins Alter bilden sie die Basis der Gemeinschaft. Freilich können ein gesellschaftlicher Wandel und mit ihm der Wandel der Familienrealitäten nicht übersehen werden. Die traditionelle familiale Rollenverteilung, wonach der Mann als Alleinverdiener einer Erwerbsarbeit nachgeht und die Frau daheim bei den Kindern bleibt, existiert heute nicht mehr. Der Anteil der berufstätigen Frauen ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen, allein in den letzten 20 Jahren von 55 Prozent (1995) auf 68 Prozent (Statistisches Bundesamt 2014). Zudem sind – wie bei anderen gesellschaftlichen Institutionen - auch Krisenerscheinungen zu erkennen: weniger Eheschließungen, eine steigende Anzahl von Ehen, die scheitern, und eine niedrige Geburtenrate.  Dieser Trend, der heute vorwiegend die Industrieländer betrifft, wird früher oder später auch andere Staaten erfassen. Die katholische Kirche hat diesen Wandel zu lange ignoriert und ein geradezu idealisiertes Bild von Ehe und Familie in den Vordergrund gestellt. Diese „heilsame Selbstkritik“ (AL 36) ist durchaus angebracht. Das nachsynodale Schreiben Amoris Laetitia ist hingegen von mehr Realismus geprägt, was die Situation der Familien anbelangt. Dieser Realismus hilft dabei, „ein allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe (...), das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist“, zu vermeiden (AL 36).

 

Im Schreiben heißt es, dass "nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden" werden müssten - auch wenn die Einheit von Lehre und Praxis in der Kirche notwendig sei. Lösungen müssen also nicht immer nur "von oben" kommen?

Westerhorstmann: Wie es den Äußerungen des Papstes seit seinem Amtsantritt schon zu entnehmen war, ist ihm der „synodale Weg“ (AL 2; 4; 7) und eine damit verbundene Dezentralisierung ein echtes Anliegen. Damit verbunden war für Franziskus das aufmerksame Zuhören im Rahmen der Synode, von dem er zu Beginn des Schreibens noch einmal berichtet. Zum einen war ihm dabei wichtig, durch die Berichte aus den verschiedenen Regionen der Welt von besonderen Herausforderungen vor Ort zu erfahren. Zum anderen schließt er für die Normen wie auch die Unterstützung für die Familien daraus, dass jeweils „inkulturierte Lösungen“ (AL 3) gefunden werden müssten, die der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse und Schwierigkeiten, mit denen sich Familien konfrontiert sähen, angemessen seien. Dass dennoch z.B. die Unauflöslichkeit der Ehe nicht zur Disposition stehen kann, steht für Franziskus außer Frage. Als Maßgabe für alle praktischen Fragen sei jeweils das Evangelium zu sehen mit seinem Angebot an die Familien und die Ehepaare, gemeinsam den Weg der „Freundschaft mit dem Herrn“ (AL 77) zu gehen und darin mit Hilfe der Gnade zu wachsen.

Stüwe: Papst Franziskus hat sicher Recht, wenn er angesichts der Komplexität der modernen Welt auch regionale oder lokale Antworten auf die Herausforderungen der Zeit fordert und ermöglicht. Ehe und Familie stehen in Europa vor anderen Problemen als z.B. in Afrika oder Lateinamerika. Während bei uns z.B. die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion ein Thema ist, müssen in anderen Kulturkreisen Fragen wie etwa der Umgang mit arrangierten Ehen beantwortet werden. Unter den Bedingungen dieser globalen Pluralität fällt eine zentrale, hierarchische Steuerung schon organisatorisch schwer. Zudem werden Verordnungen „von oben“ nicht immer den jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht. Allerdings birgt eine solche Dezentralisierung auch gewisse Risiken. Ich sage dies jetzt bewusst als Politikwissenschaftler: Eine globale Institution wie die katholische Kirche muss auch auf ein Mindestmaß an Einheitlichkeit in der Lehre und der Praxis achten. Man darf die einheits- und identitätsstiftende Funktion eines zentralen Lehramts nicht unterschätzen. Es wird eine wichtige Aufgabe für die Weiterentwicklung der katholischen Kirche sein, einerseits individuelle Lösungen vor Ort zu ermöglichen und zugleich Einheit zu bewahren.

 

Was bedeutet das Schreiben für wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle, die in festen Partnerschaften leben?

Westerhorstmann: Mit aller nötigen Differenzierung geht Franziskus auf die sehr unterschiedlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Geschiedenen nach Wiederheirat ein. Wegweisend ist in diesem Zusammenhang sicher der Grundansatz, den der Papst in Amoris Laetitia grundlegend verfolgt: „Es geht darum, alle einzugliedern“ (AL 297), d.h. Integration statt Ausschluss und Barmherzigkeit statt Verurteilung. Neu ist dabei, dass die konkreten Lebensumstände, Motivationen und das Bemühen in die Bewertung von Schuld einbezogen werden, sodass sie als mildernde Umstände auch dann geltend gemacht werden können, wenn es sich um schwerwiegende Abweichungen von der kirchlichen Morallehre wie der zivilen Heirat nach Scheidung handelt. Konkret bedeutet dies, dass Menschen auch in schwerer Schuld nicht automatisch von der Gnade „abgeschnitten“ sind, dass sie demnach auch in dieser Situation in der Gnade wachsen und dadurch „auch ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen … Gott wohlgefälliger sein [kann] als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen.“ (AL 305; EG 44) Im Dialog mit den Seelsorgern kann auch die Zulassung zu den Sakramenten im Einzelfall mit Hilfe der geistlichen „Unterscheidung“ (discretio) erwogen werden. Besondere Berücksichtigung findet in den Überlegungen des Papstes die Situation der Kinder in gescheiterten Ehen, da sie zumeist diejenigen sind, die am meisten unter der Trennung der Eltern leiden. Die Gewissenserforschung zivil Wiederverheirateter sei daher vor allem im Hinblick auf die Kinder notwendig und gefordert. Der Grundsatz der Integration gelte, so Franziskus, ebenso für Homosexuelle, auch wenn ihre Lebenspartnerschaften nicht in Analogie „zum Plan Gottes über Ehe und Familie“ zu verstehen seien. Der Papst betont zudem, dass Diskriminierung zu vermeiden sei, dass vielmehr die Kirche „ihre Haltung Jesus, dem Herrn, an[passe], der sich in grenzenloser Liebe für jeden Menschen, ohne Ausnahme, geopfert hat“ (AL 250). Daraus folge, dass „jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll[e]“.

Stüwe: Papst Franziskus ist in einem Dilemma: Einerseits will und kann er das Ideal der unauflöslichen Ehe zwischen Mann und Frau nicht in Frage stellen, andererseits will er diejenigen nicht verurteilen, die dem kirchlichen Leitbild von Ehe und Familie nicht entsprechen. Aus diesem Grund war es für mich keine Überraschung, dass Amoris Laetitia grundsätzlich an kirchlichen Normen festhält. Ein Abweichen von der kirchlichen Lehre bleibt auch für Franziskus eine „irreguläre Situation“. Aber er will nicht mehr „behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben“ (Nr. 301). Vielmehr empfiehlt er, in jedem einzelnen Fall die besondere Lebenssituation der Betroffenen zu betrachten. Hier zeigt sich der neue Ansatz dieses Papstes, der Konsequenzen z.B. für den pastoralen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen hat. Eine generelle, undifferenzierte Verurteilung der Betroffenen entspreche nicht dem Geist des Evangeliums, Stattdessen ist es ihm ein Anliegen, „eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle“ (AL 300). Zugleich bekräftigt er, „dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll und sorgsam zu vermeiden ist, ihn in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen“ (AL 250).

 

Die deutsche Fassung des kompletten päpstlichen Schreibens findet sich auf der Homepage des Vatikans