Brasiliens Ex-Präsident Bolsonaro muss in Haft – eine Einordnung

Der ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro muss wegen eines Putschversuchs mehr als 27 Jahre in Haft. Der Oberste Gerichtshof hat offiziell erklärt, dass alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind und der 70-Jährige nicht mehr auf ein Berufungsverfahren hoffen kann. Was das für Brasilien bedeutet, erläutert hier Prof. Dr. Nina Schneider, Inhaberin der Professur für Geschichte Lateinamerikas und Ko-Direktorin des Zentralin-stituts für Lateinamerikastudien (ZILAS) an der KU.

Jair Bolsonaro war 2019 bis 2022 Staatschef von Brasilien und gilt als ultrarechts. Nach seiner Wahlniederlage 2022 hat er nach Auffassung des Gerichts einen Staatsstreich gegen die demokratisch gewählte Regierung seines linken Nachfolgers Luiz Inácio Lula da Silva geplant. Im Januar 2023 stürmten Bolsonaros Anhänger den Regierungssitz in Brasília mit dem Ziel, einen Ausnahmezustand und Neuwahlen zu forcieren. Der Putsch scheiterte jedoch – auch mangels Unterstützung der Militärführung. Bolsonaro wies eine Beteiligung von sich, wurde aber im September verurteilt. Nun ist das Urteil rechtskräftig. 

Prof. Dr. Nina Schneider
© krischerfotografie Prof. Dr. Nina Schneider

Prof. Dr. Schneider, warum ist dieses Urteil so bemerkenswert?

NINA SCHNEIDER: Es gibt verschiedene Gründe. Historisch gesehen hat Brasilien eine lange Tradition der Straflosigkeit. Beispielsweise wurde kein einziger Menschenrechtsverbrecher des Militärregimes, das von 1964 bis 1985 an der Macht war, jemals verurteilt. Zweitens müssen wir bedenken, dass die heutige brasilianische Demokratie relativ jung ist. Erst 1985 gab es erstmals wieder einen zivilen Präsidenten, mit José Sarney allerdings immer noch ein Kind des Militärregimes. Drittens bedeutet die Verurteilung, dass das brasilianische Bundesverfassungsgericht ein wahrhaftes Gegengewicht einnimmt, den Putschversuch ernstnimmt und damit die demokratische Verfassung verteidigt. In den USA ist das nicht gelungen und Trump darf unbeschadet weiterregieren, obwohl seine Anhängerinnen und  Anhänger das Kapitol gestürmt haben. Sicher gibt es hier Systemunterschiede, die man berücksichtigen muss, aber die Richter des brasilianischen Bundesverfassungsgerichts haben mit dem Urteil gezeigt, die Demokratie ist wehrhaft. Ein Bundesverfassungsrichter hat ja persönlich Todesdrohungen von Bolsonaro-Anhängern erhalten.

Es gab auch die Hoffnung, durch das Verfahren die polarisierte brasilianische Gesellschaft ein Stück weit zu befrieden. Inwiefern ist das gelungen?

NINA SCHNEIDER: Das Problem der extrem polarisierten Gesellschaft wird so schnell nicht gelöst. Es sind bereits Anhänger Bolsonaros auf die Straße gegangen. Sie verbreiten die Nachricht, dass es sich um einen politischen Prozess handle. Trump spricht von einer „Hexenjagd“. Das ist klassische Kontrapropaganda von Rechtspopulisten. Die Fakten liegen auf dem Tisch und haben zu einem fast einstimmigen Ergebnis des Gerichts geführt – vier von fünf Bundesverfassungsrichterinnen und -richtern verurteilten Bolsonaro und seine sieben Komplizen.

Wie viel Macht wird Bolsonaro künftig vom Gefängnis aus noch haben? Im kommenden Jahr finden wieder Präsidentschaftswahlen in Brasilien statt – was ist dahingehend zu erwarten?

NINA SCHNEIDER: Wie schon gesagt: Die Anhänger Bolsonaros werden nicht einfach verschwinden. Die Hoffnung bleibt, dass die extreme Rechte einen Dämpfer bekommen hat und ein moderater konservativer Kandidat die Stimmen übernimmt. Prognosen würde ich an dieser Stelle noch nicht wagen. Wer auch immer das Land führen will, steht in jedem Fall vor einer Herkulesaufgabe: die Polarisierung zurückfahren und das Land einen. Das wird eine schwierige Aufgabe sein, denn Bolsonaro hat tiefe Gräben im Land hinterlassen.