Das Gewissen Europas: 75 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Mitgliedschaft im Europarat
Das Recht auf Leben, Freiheit, Sicherheit, auf freie Meinungsäußerung und Eigentum, ebenso die Freiheit von Folter, Gewalt und Diskriminierung – all das sind zentrale Menschenrechte, die uns heute oft selbstverständlich erscheinen. Dabei wird die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die diese und weitere grundlegende Rechte garantiert, am 4. November erst 75 Jahre alt. Untrennbar verbunden ist sie mit dem Europarat, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Zeitalter des friedlichen Miteinanders in Europa einleiten sollte. Deutschland hat in diesem Jahr doppelten Anlass zum Feiern: Seit 75 Jahren ist die Bundesrepublik Mitglied im Europarat und ebenso lange bildet die EMRK den Anker des europäischen Menschenrechtssystems. Dr. Andreas N. Ludwig, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der KU und spezialisiert u. a. auf deutsche Europapolitik und die Europäische Integration, beleuchtet im Interview Hintergründe und Geschichte.
Warum war die Europäische Menschenrechtskonvention bei ihrer Unterzeichnung 1950 so ein Meilenstein?
LUDWIG: Wichtig ist hier der Hintergrund der Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen, Völkermorden usw. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich zumindest die westeuropäischen Staaten und Gesellschaften einig, dass es ein neues Miteinander braucht. Das Ganze sollte auf den Grundwerten Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat ruhen. Im Ergebnis wurde 1949 der Europarat als politische Dachorganisation für Europas Einigung und Hüter dieser Wertegemeinschaft gegründet. Die Unterzeichnung der EMRK Anfang November 1950 in Rom war dabei ein zentraler Meilenstein, weil sie der erste große völkerrechtliche Vertrag dieser neuen europäischen Organisation war. Mittlerweile gibt es über 200 solcher Europaratsverträge bzw. Konventionen, die einen gemeinsamen Rechtsraum über ganz Europa gelegt haben. Die EMRK ist also erstens der Startschuss zu diesem großen Miteinander gewesen. Zweitens ist die EMRK anders als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die 1948 beschlossen wurde, ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag. Sie gilt heute für alle 46 Mitgliedsstaaten des Europarats und bildet den Kern der europäischen Wertegemeinschaft. Drittens wurde auf Grundlage dieser Konvention ein Gerichtshof eingerichtet, der die Einhaltung der Vertragsinhalte kontrollieren soll und die entscheidende Instanz der verbindlichen überstaatlichen Garantie unserer individuellen Menschenrechte in Europa ist. Konrad Adenauer hat den Europarat und sein Menschenrechtsschutzsystem daher richtigerweise einmal das „europäische Gewissen“ genannt. Sein Schutzsystem ist international betrachtet einzigartig und macht die EMRK zum Meilenstein in der europäischen Geschichte.
Welche Bedeutung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerade mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie Migration oder digitale Grundrechte?
LUDWIG: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte betrifft alle politischen Rechte, die in der EMRK abgedeckt werden. Seine herausragende Rolle hängt heute stark zusammen mit der Möglichkeit der Individualbeschwerde: Jede Einzelperson hat das Recht, wenn die eigenen Grundrechte verletzt wurden und der Rechtsweg im jeweiligen Staat ausgeschöpft ist, in Straßburg Klage einzureichen. Die Urteile, die der Gerichtshof spricht, sind völkerrechtlich bindend und gelten unmittelbar. Sie müssen nicht erst von den jeweiligen Staaten anerkannt werden, wie bei anderen internationalen Gerichtsurteilen.
Darüber hinaus entwickelt der EGMR mit seinen Urteilen die Grund- und Menschenrechte in Europa kontinuierlich weiter, um einen zeitgemäßen Menschenrechtsschutz zu gewährleisten und damit die europäische Wertegemeinschaft für die Menschen relevant zu halten. Das ist allerdings ein Punkt, der nicht immer allen gefällt. Stichwort Migration: In den letzten Monaten äußerten etliche Regierungen, angeführt von Dänemark und Italien, Kritik an der Rechtsprechung des EGMR in Abschiebefällen. Der Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, wehrte sich gegen diese Kritik und betonte aus meiner Sicht zu Recht, dass hier keine Politisierung geschehen dürfe – der EGMR kann sich als Institution, die Grundrechte schützt, nicht politischen Zyklen beugen. Das würde den Menschenrechtsschutz in Europa – die zentrale Lehre aus unserer Vergangenheit – aushöhlen. Wenn es Diskussionsbedarf gibt, müssen die Akteure dies im System des Europarats im Dialog vorantreiben. Digitale Grundrechte sind hier ein Bereich, wo das kürzlich etwa gut funktioniert hat. Im letzten Jahr hat der Europarat nach einem langwierigen Prozess eine wegweisende Rahmenkonvention zum Thema Verhältnis KI, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat aufgelegt – der erste internationale Vertrag in diesem Themenfeld.
Deutschland trat dem Europarat bereits am 13. Juli 1950 als assoziiertes Mitglied bei. Welche Rolle spielte der Europarat bei der politischen Wiedereingliederung Deutschlands?
LUDWIG: Eine ganz große. Der zweistufige Aufnahmeprozess war der erste große Schritt der europäischen Integration der Bundesrepublik. Er bedeutete symbolisch und tatsächlich die Rückkehr der Westdeutschen in die europäische Familie, als die sich der Europarat seit jeher versteht. Die Bundesrepublik hat von der Überzeugung führender Entscheidungsträger wie Winston Churchill profitiert, dass ein neues Miteinander in Europa gerade angesichts des Kalten Krieges nur mit dem neuen Deutschland möglich ist. Verständlicherweise gab es zugleich viele Bedenken gegenüber den Deutschen kaum fünf Jahre nach Kriegsende. Dass die Bundesrepublik mit Island, Griechenland und der Türkei Teil der ersten Erweiterungswelle des Europarats war, stellte also einen großen Vertrauensvorschuss dar.
Für die Bundesrepublik bedeutete die Mitgliedschaft im Europarat das Bekenntnis zu den Grundwerten Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat. Nach den Jahren des Nationalsozialismus war das entscheidend nach innen, für die Demokratisierung der Deutschen, die zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht abgeschlossen, sondern bestenfalls unterwegs war. Auch außenpolitisch war das Bekenntnis der Bundesrepublik zum neuen Europa ein wichtiges Signal und für Bundeskanzler Adenauer zugleich ein großer früher Erfolg. Die Staatsgründung war damals kaum ein Jahr her und zu seinen zentralen Zielen gehörte es, außenpolitisch Vertrauen zu gewinnen und wieder gleichberechtigter Partner auf Augenhöhe zu werden. Mit dem Beitritt zum Europarat ist das erstmals passiert.
Im Vergleich zur EU oder der NATO ist der Europarat dennoch eine eher wenig bekannte internationale Organisation. Was unterscheidet den Europarat von anderen Organisationen?
LUDWIG: Wir haben heute eine Vielzahl an europäischen Integrationsorganisationen über EU und Europarat hinaus. Je nach Zählung sind es fast 30. Was ist der Unterschied? Der Europarat war von Anfang an das „größere Europa“, gerade im Vergleich zu den Vorläufern der heutigen EU. Das gilt sowohl inhaltlich – der Europarat kümmert sich laut Statut theoretisch um alle Aspekte europäischer Einigung bis auf Verteidigung – als auch hinsichtlich der Zusammensetzung. Heute hat der Europarat 46 Mitgliedstaaten mit insgesamt fast 700 Millionen Menschen. Alle europäischen Staaten, mit wenigen Ausnahmen, sind Mitglied: Russland wurde aufgrund des Angriffskrieg auf die Ukraine ausgeschlossen, Belarus war nie Mitglied und das Kosovo ist ein Sonderfall. Alle anderen sind aber Teil der paneuropäischen Organisation – hier kommt im Unterschied zur EU also wirklich (fast) ganz Europa zusammen.
Ein zweiter wichtiger Punkt: Anders als die Vorläuferorganisationen der EU oder die NATO geht der Europarat nicht auf eine Initiative der Regierungen zurück, sondern auf die zivilgesellschaftliche Europabewegung. Deswegen begreift sich der Europarat bis heute als eine Organisation für die Menschen in Europa. Das spiegelt sich auch in der Entwicklung des Europarats. Schon ab den 1950er Jahren bezieht der Europarat schrittweise immer mehr Akteure ein, von Kommunen und Regionen angefangen, also substaatliche Akteure, bis hin zu NGOs – all das ist heute institutionell abgebildet im System des Europarats und schafft ein inklusives Europa aller Ebenen.
Der Europarat sollte in den späten 1940er Jahren, wie schon erwähnt, eine Dachorganisation für die europäische Einigung schaffen. In gewisser Weise gilt das noch heute, mit klarem Schwerpunkt allerdings auf Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat als Fundament des Miteinanders in Europa. Darin unterscheidet sich der Europarat von allen anderen Organisationen: Er macht die Grundlagenarbeit für das Projekt Europa. Der Europarat ist bildlich gesprochen das Basispaket europäischer Einigung, die EU und alle anderen Organisationen sind unterschiedlich umfangreiche Zusatzpakete, die man als europäischer Staat dazubuchen kann.
Eine Zäsur in jüngster Vergangenheit war 2022 der erwähnte Ausschluss Russlands. Wie ordnen Sie dies ein die Geschichte und das Wertesystem des Europarats?
LUDWIG: Der Europarat folgt von Beginn an einer paneuropäischen Logik: Möglichst alle Europäer sollten Teil der europäischen Einigung und Wertegemeinschaft werden. Dementsprechend war nach der Wende die Überlegung, die Russische Föderation einzubeziehen, logisch und ihre Aufnahme 1996 ein großer Erfolg. Das hatte allerdings seinen Preis. Schon während des Beitrittsprozesses und erst recht danach gab es erhebliche Probleme. Der Europarat hat dennoch lange an der russischen Mitgliedschaft festgehalten, manche sagen zu lange. Die Hoffnung war immer, dass durch die zunehmende Einbindung in den Europarat, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat in Russland zunehmend gestärkt werden. Man hat dabei vor allem an die russische Zivilgesellschaft gedacht, die definitiv Hauptprofiteurin dieser Mitgliedschaft war. Ziel war es, Russland durch die Mitgliedschaft auf einem europäischen Kurs zu halten. Mit dem Angriffskrieg war allerdings 2022 eine absolut rote Linie überschritten. Es gibt zwei solche roten Linien: Angriffskrieg und Wiedereinführung der Todesstrafe. Eine Überschreitung dieser Linien kompromittiert die Glaubwürdigkeit des Europarats – und genau das ist hier passiert. Der Ausschluss Russlands war damit unumgänglich.
Sie bringen im Dezember gemeinsam mit Prof. Dr. Birte Wassenberg von der Universität Straßburg ein Buch über den Europarat heraus. Was möchten Sie der Öffentlichkeit damit in Zeiten europäischer Krisen und europakritischer Stimmen besonders vermitteln?
LUDWIG: Die wichtige und zentrale Rolle des Europarats für die Bundesrepublik und für uns alle, die in Deutschland lebenden Menschen egal welcher Herkunft. Wir wollen zur Perspektivenöffnung beitragen: Europa ist mehr als die EU. Gerade für die Grundlagen der europäischen Einigung, für Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat in Europa, ist vertraglich primär der Europarat zuständig. Unser Buch möchte daher das Bewusstsein und das Wissen über den Europarat und seine zentrale Rolle für die Menschen stärken. Das ist aus unserer Sicht ein wichtiger Baustein für das Gelingen des Projekts Europa, von dem gerade die Deutschen so massiv in den letzten acht Jahrzehnten profitiert haben.