Das Graduiertenkolleg „Practicing Place: Soziokulturelle Praktiken und epistemische Konfigurationen“ der KU wird um eine zweite Förderperiode verlängert. Das hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mitgeteilt, die das Graduiertenkolleg seit dessen Einrichtung im April 2021 finanziert. Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gehen in Forschungsprojekten der Frage nach, wie Orte durch soziale Praktiken verändert und gestaltet werden. Im Zentrum steht die Reflexion von Ort und Raum angesichts von globalen Krisen, wechselseitigen Abhängigkeiten, nationalen Abgrenzungen und grenzenloser Kommunikation.
Das Kolleg „Practicing Place“ ist eines von bundesweit zehn Graduiertenkollegs, deren Verlängerung bis 31. März 2030 heute von der DFG bekannt gegeben wurde. Die laufende, erste Förderphase umfasste ein Volumen in Höhe von rund 3,8 Millionen Euro – die zweite Förderung bewegt sich in ähnlicher Größenordnung. Für die KU sei die Verlängerung ein großartiger Erfolg, sagt KU-Präsidentin Prof. Dr. Gabriele Gien. Es handelt sich um das erste von der DFG geförderte Graduiertenkolleg an der KU. Dessen Bewilligung und Einrichtung sei für die Universität ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur DFG-Mitgliedschaft gewesen, so Gien. Zudem habe das Kolleg wichtige Impulse im Bereich der kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung gegeben. „Dass uns die DFG jetzt eine zweite Förderperiode zugesagt hat, ist nicht nur eine Auszeichnung für das Team des Kollegs und die jungen Forscherinnen und Forscher, sondern auch ein erneuter Nachweis unserer wissenschaftlichen Reputation.“
Das Graduiertenkolleg greift mit der Forschung zu Raum und Ort einen Themenbereich auf, der angesichts von Globalisierungsprozessen, Migrationsbewegungen, ökologischen Katastrophen, geopolitischen Konfrontationen und gesellschaftlichen Polarisierungen und kultureller Differenzierung hochaktuell ist. „In einer Zeit multipler Krisen, in der die Welt zugleich zunehmend vernetzt ist und Kommunikationsmöglichkeiten keine Grenzen mehr kennen, gewinnen Orte und ihre Bedeutungen an Relevanz“, sagt der Eichstätter Soziologe Prof. Dr. Robert Schmidt, der seit 2023 Sprecher des Graduiertenkollegs ist. Dessen Ziel sei es, Orte nicht als statische, festgelegte Einheiten zu betrachten, sondern als dynamische Systeme, die sich ständig verändern. In ihren Projekten analysieren die Nachwuchsforscherinnen und -forscher, wie Orte durch spezifische Praktiken geschaffen und wahrgenommen werden – zum Beispiel durch Kartieren, Erfahren oder Erzählen. „Orte sind nicht einfach nur physische Plätze oder ‚die eine Heimat‘, sondern vielmehr komplexe Systeme, die durch Kommunikation und Emotionen geprägt sind“, sagt Schmidt. In jeder Praxis der Verortung spielten auch Machtverhältnisse eine Rolle, denn Begriffe wie Aneignung oder Ausgrenzung verdeutlichten, dass Orte auch in sozialen und kulturellen Kontexten immer wieder neu verhandelt und reproduziert werden.
Bislang wurden Fragen von Ort und Verortung vorwiegend innerhalb einzelner Disziplinen mit ihren jeweiligen Methoden ergründet. Doch die Mischung von sozialen, politischen, künstlerischen und literarischen Aspekten macht eine interdisziplinäre Herangehensweise erforderlich. Das Spektrum der beteiligten Fächer reicht im Graduiertenkolleg von Literatur- und Kulturwissenschaften über Soziologie, Philosophie und Geographie bis hin zur Kunstgeschichte – so sollen verschiedene Sichtweisen im Studium von Orten möglich sein. Auch die Fächer Geschichte, Archäologie und Theologie gehören zu den Kooperationspartnern.
Welcome Day für die zweite Kohorte des Graduiertenkollegs "Practicing Place"
Zwei bereits abgeschlossene Dissertationen verdeutlichen exemplarisch, dass Subjektivität und Orte in einem dynamischen Zusammenspiel von sozialen, kulturellen und kommunikativen Praktiken hervorgebracht werden. So untersuchte Sabine Aretz in ihrer Arbeit mit dem Titel "(Re-)Placing the #MeToo Movement: Shame, Power, and Autobiographical Narratives", wie autobiografische Erzählungen Scham im Kontext der MeToo-Bewegung verhandeln. Die Arbeit von Shruti Malik mit dem Titel "Guided Walking Tours as a Practice of Place: An Exercise in Thick Comparison" geht der Frage nach, wie geführte Stadtbesichtigungen in Berlin und New Delhi die städtische Architektur beleben und performativ umsetzen. Malik zeigt, wie diese Touren die sogenannten "affordances" urbaner Umgebungen – die Nutzungsmöglichkeiten, die bestimmte räumliche Gegebenheiten bieten – erneuern und sie zu narrativen Mitteln machen, durch die Menschen sich orientieren und identifizieren.
Das dreijährige Studienprogramm des Kollegs durchlaufen sogenannte Kohorten, die jeweils zehn von der DFG finanzierte Promotionsstellen umfassen. Im April 2024 nahm die zweite Kohorte ihre Arbeit am Kolleg auf. Außerdem gehören eine Postdoktorandin, sieben Hochschullehrerinnen und -lehrer der KU sowie ein Dutzend assoziierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Graduiertenkolleg. Die Verlängerung der Förderung durch die DFG ermöglicht nun die Aufnahme einer dritten Kohorte mit weiteren zehn Plätzen für Promovierende. KU-Präsidentin Gabriele Gien verweist auf den wichtigen Beitrag des Graduiertenkollegs zur Internationalisierung der Universität: Unter den bisherigen Kollegiatinnen und Kollegiaten seien Promovierende aus Großbritannien und Guatemala, Indien und Italien, Kolumbien und Russland. Zudem konnten mehrfach internationale Gastwissenschaftler gewonnen werden, die sich in das Studienprogramm einbrachten. Mit der Northumbria University im englischen Newcastle wurde jüngst eine Arbeitsgruppe für ein gemeinsames Projekt gebildet.
In der zweiten Förderrunde will das Graduiertenkolleg einen Schwerpunkt auf die Untersuchung von Orten und Verortungsprozessen als Zentren von Konflikten legen. Diese würden etwa durch geopolitische Spannungen, die ökologische Krise und gesellschaftliche Polarisierungen ausgelöst. So solle etwa untersucht werden, wie Orte als Schauplätze von politischen Konflikten und als öffentliche Arenen fungieren, erklärt Robert Schmidt. Dabei solle insbesondere analysiert werden, wie Proteste und soziale Bewegungen diese Orte politisieren und politische Machtstrukturen herausfordern. Die Forschung werde auch die Rolle nichtmenschlicher Akteure wie Tiere und Technologien bei der Schaffung von Orten berücksichtigen. Schließlich wolle man unter dem Stichwort „Geo- und Ecopoetics“ untersuchen, wie künstlerische, literarische und kulturelle Praktiken Orte neu darstellen und dekonstruieren. Ein besonderes Augenmerk liege dabei auf postkolonialen Ansätzen, die alternative Vorstellungen von Raum und Zugehörigkeit jenseits nationaler Grenzen entwickeln.
Das Graduiertenkolleg „Practicing Place“ veranstaltet vom 25. bis 27. Juni an der KU in Eichstätt die Konferenz “Contesting Place – Practices of (Un)Doing”. Die Tagung widmet sich der Untersuchung von Konflikten um Orte im Kontext neuer politischer, ökologischer und sozialer Herausforderungen. Mehr Informationen hier.