Papst Leo XIV. – wer ist Robert Francis Prevost?

Robert Francis Prevost
© Christian Klenk

Leo XIV. – so heißt der neue Papst, den die Kardinäle im vierten Wahlgang gewählt haben. Wer ist Robert Francis Prevost? Wie sind sein erster Auftritt und seine Einführungsworte zu bewerten? Welche Schlüsse kann man aus der Wahl seines Papstnamens ziehen? Professorinnen und Professoren der Theologischen Fakultät sprechen über erste Beobachtungen und geben Einschätzungen. Und der Leiter der Hochschulkommunikation der KU berichtet von einer Begegnung mit Kardinal Prevost vor einem Jahr.

Viele hatten auf ein längeres Konklave getippt, nachdem daran viele Kardinäle teilnahmen, die erst in den letzten Jahren von Franziskus kreiert worden waren und sich daher kaum untereinander kannten. Der Name Robert Francis Prevost tauchte nur auf wenigen Listen der angeblich aussichtsreichsten Kandidaten auf. Aber im Kardinalskollegium war er wohl vielen bekannt aufgrund seiner Aufgaben, die er seit ziemlich genau zwei Jahren in der Kurie hatte: Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe. Erst 2023 hatte ihm Papst Franziskus diese wichtige Aufgabe übertragen. 

Bergoglio und Prevost – die beiden kannten sich aus früheren Zeiten: Der gebürtige US-Amerikaner Prevost wirkte lange Zeit als Augustiner und Missionar in Peru und hatte in diesem Zusammenhang mehrfach mit dem Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, zu tun. Es waren folgenreiche Begegnungen, denn nachdem Prevost wieder in seine Geburtsstadt Chicago zurückgekehrt war, machte ihn der inzwischen zum Papst gewählte Bergoglio 2014 zum bischöflichen Administrator der peruanischen Diözese Chiclayo. Chicago und Chiclayo unterscheiden sich nur in zwei Buchstaben – aber in der pastoralen Realität sind es Welten. Der neue Papst hat beide intensiv kennengelernt.
 

Der erste Papst, der aus den USA stammt

Benjamin Dahlke
© Christian Klenk Benjamin Dahlke

Leo XIV. ist der erste Papst, der aus den Vereinigten Staaten stammt. Das zeigt, wie bedeutend die katholische Kirche in den Nordamerika inzwischen ist. Allerdings hat der Papst seine Heimat früh verlassen, um in Südamerika zu arbeiten. Viele Jahre hat er zudem in Rom verbracht, weil er zum Leiter des Augustinerordens gewählt worden war. In seiner Ansprache am Petersplatz hat er Italienisch und Spanisch gesprochen sowie auf Latein gebetet. Seine Muttersprache, Englisch, hat er hingegen nicht verwendet. 

Trotzdem ist klar, dass er Amerikaner ist. So kann Leo XIV. die westliche Welt mit dem Globalen Süden verbinden. Spannend wird sein, welche Personalpolitik er in den USA machen wird. Dort kann er ja Bischöfe frei ernennen. Angesichts der Polarisierung, die es sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche gibt, kommt der Auswahl des Leitungspersonal große Bedeutung zu. Auch politisch ist das wichtig. Die Katholiken sind längst ein wichtiger Faktor bei Wahlen. Der einflussreiche Vizepräsident, JD Vance, ist auch katholisch.

Prof. Dr. Benjamin Dahlke, Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte
 

Gedanken zur Namenswahl Leos XIV.

Bernward Schmidt
© Schulte Strathaus Bernward Schmidt

Mit der Papstwahl vom 8. Mai 2025 ist der Name Leo auf der Liste der beliebtesten Papstnamen nach vorne gerückt – er teilt sich jetzt mit Clemens den dritten Platz, nach Johannes (bislang 23 Päpste), Gregor und Benedikt (jeweils 16). Päpstliche Namenswahlen sind schon deswegen interessant, weil sie, wenigstens in der Moderne, etwas über das Selbstverständnis des Amtsinhabers aussagen sollen. Dass der „Neue“ sich Franziskus II. nennen würde, war kaum zu erwarten, mit seiner Namenswahl präsentierte sich Leo XIV. so, wie man ihn als Kardinal schon kannte: als Mann der Mitte. 

Die bisherigen Päpste mit Namen Leo sind größtenteils unbekannt, das hat auch Gründe: Leo V. war beispielsweise nur wenige Wochen während des Sommers 930 im Amt, Leo XI. amtierte nur für fünf Monate im „Dreipäpstejahr“ 1605. Seine Position zwischen den wichtigen Päpsten Clemens VIII. (1502-1605) und Paul V. (1605-1621) markiert damit auch etwas den Bedeutungsverlust seiner Familie Medici. Aber es gibt Ausnahmen: Leo I. (440-461) wird „der Große“ genannt, Karl Suso Frank etwa ließ gar die Papstgeschichte im eigentlichen Sinne mit ihm beginnen. Denn Leo I. setzte sich nicht nur in einem wichtigen Lehrschreiben für die Lehre von göttlicher und menschlicher Natur Jesu Christi ein, er konzentrierte symbolische und politische Macht in Rom. Dass er – und nicht kaiserliche Beamte – mit dem hunnischen Herrscher Attila und dem Vandalenkönig Geiserich verhandelte, und dass Kaiser Valentinian III. päpstliche Dekretalen (das heißt rechtlich verbindliche Entscheidungen) als Reichsgesetze anerkannte, deutet diese Stellung an.

Von größerer Bedeutung als Leo III. (795-816), der Karl den Großen zum Kaiser krönte, war jedoch Leo IX. (1049-1054), der als erster Reisepapst in der Geschichte eine ganze Reihe von Synoden abhielt und Synoden zu einem wesentlichen Instrument von Kirchenleitung entwickelte. Die übrigen Leo-Päpste des Mittelalters sind dagegen weniger bekannt und kaum Bezugspunkte für Leo XIV. Erinnert werden kann und sollte für die Neuzeit an den Medici-Papst Leo X. (1513-1521), der den Spuren seines Vorgängers Julius II. folgend stark in die europäische Politik involviert war und in dessen Amtszeit der Prozess gegen Martin Luther fällt – das „Renaissancepapsttum“ lässt sich hier exemplarisch beobachten.

Mit den letzten beiden Namensvorgängern landen wir im 19. Jahrhundert: Leo XII. (1823-1829) stand mitten in den Streitigkeiten zwischen zelanti („Eiferer“) und politicanti („Diplomaten“), zwischen „Aufklärern“ und „Ultramontanen“. In der Frage, ob und wie sich die Kirche mit den modernen Staaten und den Freiheitsideen der Französischen Revolution anfreunden könne, wählte Leo XII. die konservativ-ultramontane Option der „zelanti“, denen es auf katholische Profilschärfung durch Abgrenzung ankam. Nichtsdestotrotz gab es Signale von Öffnung, als er die Unabhängigkeit ehemals spanischer Kolonien in Amerika anerkannte und die Werke Galileo Galileis 1822 vom Index der verbotenen Bücher streichen ließ.

Leo XIII. (1878-1903) schließlich ist sicherlich der bekannteste der Leo-Päpste, seine Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) wurde bereits vielfach als Bezugspunkt für Leo XIV. erwähnt. Freilich gilt es zu ergänzen, dass Leo XIII. das Erbe des „Überpapstes“ des 19. Jahrhunderts, Pius‘ IX. zu übernehmen hatte: Die Erklärung des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit lag noch nicht lange zurück, das Ende des Kirchenstaates ebenso (beides 1870). Der völkerrechtlich unklare Status des Papstes ließ sich mit dem jungen italienischen Staat nicht klären – Leo XIII. hatte selbst wohl nur ein begrenztes Interesse daran, konnte damit aber auch dem Antiklerikalismus wenig entgegensetzen. Schon im Jahr nach seinem Amtsantritt legte Leo XIII. zudem für die Theologie und das Theologiestudium den Thomismus als verbindliche Norm fest (Enzyklika Aeterni Patris, 1879). Dass er – ganz im Sinne seines Vorgängers – die Marienfrömmigkeit als wesentliches Kennzeichen eines ultramontan profilierten Katholizismus besonders förderte, wird an der Vielzahl seiner Enzykliken zur Mariologie ablesbar.

Aber Leo XIII. öffnete im Jahr 1881 auch die vatikanischen Archive für die wissenschaftliche Öffentlichkeit und veröffentlichte zehn Jahre später seine wichtigste Enzyklika Rerum novarum. In dieser ersten päpstlichen Äußerung zur Sozialethik schlug er einen mittleren Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus ein – er verurteilte Elemente beider Ideologien, würdigte aber auch den Beitrag beider zu einem gelingenden und gerechten Wirtschaftsleben. Und Leo XIII. gelang es, die päpstliche Diplomatie in einer Welt konfrontativer Nationalstaaten zu stärken; er nutzte sie als Mittel, um die Staaten durch diplomatische Vertreter zu erreichen und so seinen Einfluß auf politischer Ebene geltend zu machen. Insofern finden sich in Leo XIII. konservative ebenso wie vorwärtsweisende Perspektiven. 

Was aus diesem kirchenhistorischen Potpourri Leo XIV. adaptieren und woran er nicht rühren wird, das werden die nächsten Jahre zeigen. Bemerkenswert scheint jedoch, dass seine Vorstellung am Abend des 8. Mai ähnlich polyglott war wie der neue Papst selbst: In seiner Ansprache positionierte er sich deutlich als Gefolgsmann von Papst Franziskus, der dessen Ideale teilt. Die Namenswahl und die Symbolik des Auftritts können aber auch als ausgestreckte Hand in Richtung der konservativen Fraktion gedeutet werden: Er trat eben nicht nur im schlichten Weiß auf, sondern mit roter Mozzetta und goldbesetzter Stola, wie die übrigen Päpste in den Jahrzehnten zuvor. Er wählte keinen neuen oder eindeutig besetzten Papstnamen, sondern einen, der große inhaltliche Offenheit signalisiert. Er hielt eine programmatische Ansprache, keine spontane; er war nicht unbedingt darum bemüht, die Herzen im Sturm zu gewinnen. Und anders als Franziskus erteilte er den Segen, bat aber nicht das Volk um sein Gebet und seinen Segen. 

Prof. Dr. Bernward Schmidt, Lehrstuhl für Mittlere und Neue Kirchengeschichte
 

Welches pastorale Programm lassen seine Einführungsworte erwarten?

Katharina Karl
© Christian Klenk Katharina Karl

Der Papst beginnt seine Ansprache am 8. Mai 2025 formal mit dem österlichen Friedensgruß. Dieser ist liturgisch gehalten und spricht in die Kriege und Krisen der Welt die Botschaft der Auferstehung. Bei mir kommt die Botschaft an: Der Friede und die Erlösung kommen von Gott. Ein Bezug auf soziale Fragen, wie er im Sinne der Namensgebung zu erwarten wäre, spielt zunächst kaum eine Rolle für das Programm der Rede. Er findet sich erst ganz zum Schluss, wenn Leo noch die Armen und Bedürftigen als besondere Adressaten der Sendung der Kirche benennt. Der Rekurs auf seinen direkten Vorgänger, Papst Franziskus, hingegen zieht sich als zentrales Motiv durch die Ansprache. Leo XIV. stellt sich in eine Kontinuität mit Franziskus. Es ist erwarten, dass er vielleicht etwas stärker strukturierend wirken wird. Auch in Bezug auf die Frage nach der Rolle der Frau in der katholischen Kirche lässt diese Ansprache vermuten, dass er die Grenze der Zulassung zur Weihe nicht überschreiten wird, die Franziskus bei allen Förderinitiativen von Frauen in Leitungsgremien markiert hat – aber wer weiß…

Programmatisch und wiederholt spricht der neue Papst davon, dass die Kirche missionarisch wirken soll. Was er darunter versteht, führt er nicht näher aus. Da Prevost als Bischof die längste Zeit seines Wirkens in Peru tätig war, nehme ich an, dass er damit an die „missionarische Jüngerschaft“ von Franziskus und das Konzept des „Discipulado“ der Vollversammlungen von Medellín (1968) und Aparecida (2007) mit einem starken sozialpastoralen Bezug anschließt. Ob damit auch ein gegenkulturelles Verständnis im Sinne der Neu-Evangelisierung von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mitschwingt, wird sich noch zeigen. 

Streckenweise wirkt die Rede formelhaft und etwas repetitiv. Öfters spricht der Papst davon, dass er sich als jemand versteht, der mit allen auf dem Weg ist und ihnen vorangeht. Hier markiert er den Wunsch nach Fortschritt, ohne diesen inhaltlich näher zu füllen. Zugleich macht er eine Spannung im Selbstverständnis auf: als Christ auf dem Weg mit allen und als der, der den Weg weist. Möglicherweise ist hier auch sein Verständnis von Synodalität zu verorten. Ich bin gespannt, ob es ihm gelingt, die Menschen mit auf diesen Weg zu nehmen und synodale Partizipation zu fördern.

Prof. Dr. Katharina Karl, Professur für Pastoraltheologie
 

Begegnung mit dem Papst und seinem Nachfolger

Christian Klenk
© Volker Resing Christian Klenk im Gespräch mit Robert Kardinal Prevost

Ich konnte Robert Kardinal Prevost vor gut einem Jahr kennenlernen – im Rahmen eines Hintergrundgesprächs für rund 30 Journalistinnen und Journalisten am 5. Januar 2024. Am Tag zuvor hatte ich mit der Gruppe der Gesellschaft Katholischer Publizistinnen und Publizisten die Gelegenheit, Papst Franziskus bei der Privataudienz im Apostolischen Palast zu treffen. Die Eindrücke dieser einzigartigen Begegnung waren noch ganz frisch, als am nächsten Tag noch ein Termin mit einem Kardinal auf dem Programm stand. Noch vergleichsweise kurz sei dieser im Amt, aber eine durchaus interessante Person – so wurde uns der Gesprächspartner angekündigt. Niemand ahnte, dass sich an den Besuch des amtierenden Papstes beinahe nahtlos die Begegnung mit seinem Nachfolger anschloss.

Eine Stunde lang dauerte das Gespräch (auf englisch) im Konferenzsaal des Dikasteriums. Was atmosphärisch in Erinnerung bleibt: Es war eine außerordentlich heitere Begegnung, bei der sehr viel gelacht wurde – Prevost ist humorvoll. Inhaltlich ging es natürlich vor allem um die Arbeit des Dikasteriums, das insbesondere für die Prüfung von Bischofskandidaten zuständig ist und dem Papst die Vorschläge für die Ernennungen unterbreitet. Wie funktioniert diese Bischofssuche und Prüfung der Kandidaten? Warum dauert das mitunter so lange? Was hat sich beim Verfahren durch den Missbrauchsskandal verändert? Diese und andere Fragen beantwortete der Kardinal bereitwillig – über die Inhalte eines Hintergrundgesprächs „unter drei“ darf freilich auch dann nicht gesprochen werden, wenn der Auskunftgeber zum Papst gewählt wird. So wie die Geschehnisse im Konklave vertraulich bleiben sollen. 

Nach dem Hintergrundgespräch, beim Verabschieden, wechselte ich wenige Worte mit Robert Kardinal Prevost. Es hatte sich im Aufbruch so ergeben. Der Journalistenkollege Volker Resing vom Magazin „Cicero" hielt das damals unbemerkt mit seiner Handykamera fest (das Foto schickte er mir dankenswerterweise gestern). Ich weiß noch, dass ich berichtete, an der Katholischen Universität in Eichstätt tätig zu sein – aber ich muss gestehen: an mehr kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, einige wenige Notizen hatte ich nur vom vorherigen Gespräch.

Dr. Christian Klenk, Leiter der Hochschulkommunikation

 

Ein Löwe als Brückenbauer?

Martin Kirschner
© Christian Klenk Martin Kirschner

Was wird einem Kardinal Robert Francis Prevost durch den Kopf gegangen sein, als er zum ersten Mal als Papst Leo XIV. vor die riesige Menschenmenge am Petersplatz getreten ist und damit vor die gesamte Weltöffentlichkeit? Die Aufregung war dem neuen Papst jedenfalls anzumerken, was ihn mit seinem Redemanuskript etwas steif, aber in seinen Blicken und Pausen zugleich sehr menschlich hat erscheinen lassen. Ich bin überzeugt, dass die ersten Worte Programm sind: Was ist das eine Notwendige, was jetzt zu sagen ist?

Diese Botschaft war deutlich: Friede sei mit Euch allen! Es ist der Gruß des Auferstandenen, gesprochen in die Weltsituation eskalierender Kriege und Gewalt, von Feindbildern und Aufrüstung. Da zählt jedes Wort und der Nachdruck in den Worten: Frieden mit Euch allen, „wo immer sie sein mögen, alle Völker“ (Ukrainer und Russen, Israelis und Palästinenser); ein entwaffnender, demütiger Frieden – ohne sich von Angst bestimmen zu lassen. Gott liebt alle Menschen, bedingungslos! Beim ersten Hören hat sich mir jedes Wort eingegraben. Es ist eine zugleich politische und österliche Botschaft, die Not tut, gerade in Europa.

Im Vorfeld war für mich die große Frage: wieder ein Papst aus dem globalen Süden (Asien? Afrika?), oder dieses Mal wieder ein Europäer, vielleicht ein Italiener und Diplomat, der die Kurie gut kennt? Das Verblüffende: Prevost bringt das alles zusammen. Gebürtig in den USA war er 20 Jahre als Missionar in Peru und die letzten Jahre an der Kurie, verantwortlich für das Dikasterium für die Bischöfe, bestens vernetzt, ein Diplomat. Er steht Franziskus nah, hat aber in Habitus und Gestus eher an Benedikt erinnert. Er könnte ein stabilisierender Vermittler werden, der den von Franziskus angestoßenen Weg weitergeht und als promovierter Kirchenrechtler in Strukturen umsetzt; ein „oberster Brückenbauer“, Pontifex maximus, im besten Sinn. Dass er so schnell gewählt wurde, zeigt, dass es keine große Lagerbildung gegeben haben dürfte.

Aber ein Papst aus den USA? Dann kam mir ein unerhörter Gedanke. Johannes Paul II., der polnische Papst, hat wesentlich zur Überwindung des Kommunismus und der Spaltung Europas beigetragen, konnte aber nach 1990 den Siegeszug des Neoliberalismus und Neoimperialismus nicht verhindern. Ist es jetzt nicht der Westen, der sich im Niedergang befindet? Ist es nicht eine neue, brandgefährliche Spaltung der Welt, die wir erleben und die in einen großen Krieg zu führen droht? Ist es da nicht vielleicht providentiell: Ein Papst aus den USA, der in Peru verwurzelt ist und dessen Herz aufgeht, wenn er spanisch spricht? Ein us-amerikanischer Papst, der unabhängig ist: gegenüber Trump und den Demokraten, gegenüber einem disruptiven Neoimperialismus und gegenüber dem Establishment mit seiner Politik militärischer Expansion und Intervention. Er passt nicht in die Lager und kann vielleicht gerade so eine Stimme und Autorität sein, die in Ost und West, Nord und Süd, bei Konservativen und Liberalen gehört wird.

Der Name Leo kann hier Programm sein. Einerseits weil es den Mut des Löwen braucht, die Verbindung von theologischer Tiefe und politischer Präzision, für die der erste, „große“ Leo stehen mag. Zum anderen weil er auf Leo XIII. verweist und auf die katholische Soziallehre als einem alternativen Modell zu Kommunismus und Kapitalismus. Gilt es nicht in einer Zeit wegbrechender Ordnungen gemeinsam, in synodaler Weise daran zu arbeiten, eine neue Ordnung aufzubauen, die sozial und interkulturell, ökologisch und am Gemeinwohl orientiert ist? Das könnte die Wendung zur Peripherie unter Franziskus in eine Arbeit an Strukturen übersetzen. Ähnlich innerkirchlich: So wie Paul VI. umgesetzt hat, was Johannes XXIII. angestoßen hatte, so braucht es vielleicht jetzt einen offenen, am Programm von Franziskus ausgerichteten Papst, der aber zugleich zu vermitteln und langfristig aufzubauen versteht. Das scheint mir wichtiger als die Frage nach Einzelpositionen, die Prevost bisher vertreten hat. Schließlich geht es um einen gesamtkirchlichen Lernprozess, den der Papst anstößt, begleitet, moderiert und an dem er selbst teilnimmt. Das fordert Führungskraft und die Fähigkeit, zuzuhören und zu lernen, bevor dann im rechten Moment Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden. Leo XIV. scheint mir solche Fähigkeiten in hohem Maße mitzubringen. Als „Kind des Augustinus“, so hat er in seiner ersten Rede gesagt, möchte er „mit uns Christ“ und „für uns Bischof“ sein: Der synodale Lernprozess tritt in eine neue Phase. 

Prof. Dr. Martin Kirschner, Lehrstuhl für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart