Die Wiederentdeckung von Orten in der globalen Literatur

Wie fließen lokale und globale Strömungen in zeitgenössische Literatur ein? Und wie lassen sich die darin thematisierte Vielfältigkeit und Komplexität heutiger Orts- und Migrationserfahrungen wissenschaftlich systematisieren? Solchen Fragen ging vor kurzem die Tagung „A Mobile Literature and the Return of Place: New Diasporic Writing Beyond the Black Atlantic“ nach, die vom Team der Eichstätter Amerikanistik organisiert wurde. Wir haben dazu mit Prof. Dr. Kerstin Schmidt über die Bedeutung von Orten, neuen Migrationsbewegungen und den Begriff der „Weltliteratur“ gesprochen.

Welche Rolle spielen Orte in der zeitgenössischen Diaspora-Literatur angesichts globaler Mobilität?

Für Autorinnen und Autoren, die mit räumlicher, oft selbstgewählter Distanz zu ihrem Herkunftsland schreiben, sind die Orte ihrer Jugend oder die Orte ihrer Vorfahren in der Regel nicht mehr Ausdruck einer Sehnsucht nach Ursprung, Heimat und Geborgenheit und eines damit verbundenen, imaginierten Identitätskonzepts. Verortungen sind sozusagen keine Einbahnstraße, die auf der Suche nach dem eigenen Ursprung unerreichbar scheinen oder dem aktuellen Wohnort vergleichend gegenüber gestellt werden. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der neuen Migrationsliteratur setzen sich mit ihren Herkunftsländern auseinander und setzen sie ins Verhältnis zu anderen Orten. Häufig ist die Rede davon, dass Verortung im globalen Raum keine Rolle mehr spielt, dass man geradezu "ortsungebunden" in einer globalen Welt leben - und schreiben - kann. Das Gegenteil ist der Fall, wie ein Blick in neue englischsprachige Migrationsliteratur zeigt: In diesen Texten geht es nicht länger um die ersehnte Rückkehr zu einem Ursprungsort, sondern um die literarische Verarbeitung gegenseitiger Beziehungen und Verflechtungen zwischen vielen Orten und der damit verbundenen Erfahrungen. Vor allem bezogen auf die USA halte ich diese neue Form der Diasporaliteratur für hochspannend, weil sie dieses von verschiedenen Migrationsbewegungen und dem Erbe des Sklaverei geprägte Land bis heute definiert.

Welche Beispiele für solche Literatur gibt es?

Teju Cole ist ein nigerianisch-amerikanischer Schriftsteller, der in seinem von Kritik und Publikum gefeierten Roman „Open City“ (2011) den Protagonisten Julius, der aus Nigeria stammt, während endloser Spaziergänge im Schmelztiegel der Millionenstadt New York die Widersprüchlichkeiten seines Daseins reflektieren und in den Widersprüchlichkeiten der Stadt spiegeln lässt. Auf der Suche nach seiner aus Deutschland stammenden Großmutter reist er nach Brüssel und in das Afrika seiner Kindheit. Als Flâneur wandert er durch die Orte seines Lebens und gerät damit auch in Kontakt mit der eigenen Vergangenheit und der seiner Familie. Diese Wanderungen lassen ihn in Benjamin’scher Art ebenso über Multikulturalismus und Kosmopolitismus räsonnieren. Seine Texte, Erinnerungen und Erfahrungen werden damit zu Collagen aus verschiedenen Kulturen und Orten und den Verflechtungen zwischen ihnen. Oder nehmen Sie die viel beachtete Performance der kenianisch-US amerikanischen Dichterin und Performance Künstlerin Shailja Patel, die bei unserer Konferenz zu Gast war. Unter dem Titel „Migritude“ werden bei Patel Familiengeschichte, Reportage und Monologe zu Reflektionen über die Erfahrung von Migration und Austausch in einer globalisierten Welt.

Ist das eine neue Form der Weltliteratur?

Der Begriff der Weltliteratur erfährt derzeit in der Forschungsdiskussion eine Renaissance, wie die Arbeiten von David Damrosch, Franco Moretti, Joseph Tabbi und vielen anderen Wissenschaftlern zeigen. Aber der Begriff bedarf einer dringenden theoretischen Überarbeitung und konzeptuellen Aktualisierung, nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Prägung als „weiß-männlich-westlich“, wenn man ihn als tragfähiges Konzept für diese neue Weltliteratur sinnvoll nutzen möchte. Genau dieser Aufgabe widmete sich unsere Tagung. Weil es sich in den „Diaspora and Migration Studies“ dabei um ein zentrales Forschungsthema handelt, planen die Tagungsteilnehmer, die aus Kenia, Indien, den USA und Kanada sowie aus Frankreich und von anderen deutschen Universitäten nach Eichstätt kamen, ein internationales Forschungsnetzwerk, bei dem weitere Konferenzen und Publikationen schon in Planung sind.

 

Prof. Dr. Kerstin Schmidt ist an der KU Inhaberin des Lehrstuhls für Amerikanistik.

 

 

 



 Interview: Constantin Schulte Strathaus