"Die Zustände sind unhaltbar": Über die Situation von Flüchtenden während der Pandemie

Im Rahmen des gemeinsamem Corona-Forums von KU und Donaukurier spricht die Soziologin Prof. Dr. Karin Scherschel, Inhaberin der Professur für Flucht- und Migrationsforschung sowie wissenschaftliche Leiterin des Zentrums Flucht und Migration, über die Situation von Menschen auf der Flucht, in Auffanglagern und ihren Herkunftsländern.

Frau Scherschel, die Grenzen in Europa sind aufgrund der Corona-Pandemie seit vielen Wochen überwiegend geschlossen. Welche Folgen hat das für Menschen auf der Flucht?

Karin Scherschel: Die Auswirkungen sind enorm. 167 Länder haben laut Schätzungen des UNHCR ihre Grenzen teilweise geschlossen, 57 Staaten sogar vollständig. Menschen können daher weder einreisen, noch ihre Länder verlassen. Damit ist das Asylgesetz faktisch außer Kraft gesetzt. Im Mittelmeer sind zudem Häfen und Werften gesperrt, die zivile Seenotrettung wurde eingestellt und Schiffsbesatzungen zeitweise unter Quarantäne gestellt. Dabei wirkt die aktuelle Krise wie ein Brandbeschleuniger. Dort, wo soziale Ungleichheiten bestehen, wo bestimmte Gruppen nur über geringe Ressourcen verfügen, um sich zu schützen, sind die Menschen besonders verletzlich. Durch die Pandemie potenzieren sich solche schwierigen Lebenslagen.

Wie viele Menschen sind aktuell denn auf der Flucht?

Scherschel: In der vergangenen Woche wurde der aktuelle Bericht des UNHCR veröffentlicht. Die Zahlen zeigen: Weltweit befinden sich 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist ein neuer Hochstand an Fluchtbewegungen. Während sich ein Großteil des Fluchtgeschehens außerhalb von Europa abspielt, leben in Europa weniger als 10 Prozent der Flüchtenden weltweit. Zum einen zeigt dies, wie viele Menschen betroffen sind, zum anderen ist die Zahl der Menschen, die in Europa Asyl beantragen, relativ gering.

Zuletzt waren wiederholt Bilder aus Auffanglagern in Griechenland zu sehen. Ein Leser fragt, ob sich die Menschen dort ausreichend vor der Pandemie schützen können?

Scherschel: Als Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im April das Lager in Moria besuchte, hat er sehr deutlich gesagt, dass es eine Schande sei, dass solche Zustände in Europa zugelassen werden. In Moria leben etwa 20.000 Menschen in einem Lager, das für 3.000 Menschen konzipiert ist. Die Zustände sind unhaltbar. Es gibt kaum Duschen oder Toiletten, auch Wasser ist nur sehr begrenzt vorhanden. Eine ausreichende ärztliche Versorgung fehlt. Fluchtmigranten haben nun ein „Moria Corona Awareness Team“ gebildet, das die im Lager lebenden Menschen über die Pandemie informiert.  

Die Menschen helfen sich also selbst?

Scherschel: Ja. Gleichzeitig erleben wir, dass Hilfsorganisationen von der lokalen Bevölkerung angegriffen werden. Auslöser sind soziale Konflikte. Griechenland ist ein Land, das in der Finanzkrise sehr gelitten hat. Die schlechte Lebenssituation vieler Menschen ist ein Nährboden für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Die Corona-Pandemie verstärkt die Unsicherheit. In der Soziologie sprechen wir von „anomischen Situationen“. Vertraute Rahmenbedingungen, Routinen und Normen gehen verloren, wodurch Situationen entstehen, in denen Fanatismus sich einen Weg bahnen kann.  

Welche Personen sind denn besonders gefährdet?

Scherschel: Vor allem Frauen und Kinder. In einem Lager wie in Moria gibt es keinen besonderen Schutz für Kinder und keinen Zugang zu Bildung. Frauen sind auf den Fluchtwegen zudem sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Zugleich haben sie spezifische Bedürfnisse wie die Versorgung mit speziellen Hygieneartikeln. Das heißt aber nicht, dass wir geflüchtete Frauen als Opfer wahrnehmen sollten. In einem Forschungsprojekt konnten wir mit geflüchteten Frauen aus Syrien, Pakistan und Afghanistan sprechen, die alle hochqualifiziert und in ihren Herkunftsländern fest in den Arbeitsmarkt integriert waren. In Deutschland hatten sie aber große Probleme, eine berufliche Tätigkeit zu finden. Das liegt daran, dass die Vorstellung verbreitet ist, dass geflüchtete Frauen eher auf die Kinder aufpassen. Viele überrascht es dann, wenn plötzlich eine hochqualifizierte Ingenieurin vor ihnen sitzt, die keine Kinder hat und die gerne arbeiten würde. Wir müssen also sehr darauf achten, dass wir Migrantinnen nicht stereotypisieren.

Hat die Schließung der Grenzen denn dazu geführt, dass Migranten wieder stärker in die Hände von Schleusern getrieben wurden?

Scherschel: Natürlich steigt das Risiko, dass sich Menschen stärker auf solche Personen einlassen, wenn die zivile Seenotrettung im Mittelmeer eingestellt wird. Verlässliche Daten dazu haben wir aber nicht. In den Medien wird teilweise aber auch von Schleusern gesprochen, wenn unklar ist, ob es sich vielleicht um Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen handelt. Das trägt zu einer Kriminalisierung dieser Personengruppen bei.

Hat sich die politische Situation denn verschärft?

Scherschel: Wir haben es mit einem gesellschaftlich sehr umstrittenen Feld zu tun. Klar ist: Es gibt eine „Nadelöhr“-Politik, die es den Menschen erschwert, nach Europa zu kommen. Denken wir an das Jahr 2015, in dem Menschen hauptsächlich aus Syrien nach Deutschland kamen. Seither lautet die Botschaft: So etwas darf nie wieder geschehen. Doch was heißt das aus christlicher oder aus menschenrechtlicher Perspektive? Da sich die Kriege außerhalb Europas nicht einfach beenden lassen, versucht man, die Folgen zu regulieren, sodass sie in Europa möglichst wenig spürbar werden. Dazu arbeitet man in Krisenregionen teilweise mit hoch problematischen Akteuren zusammen. Besonders schlimm ist die Situation in Libyen, wo in den Lagern gefoltert wird. Menschenrechtsorganisationen und kirchliche Vertreter sind sich einig, dass solche Situationen unhaltbar sind.

Führen die Einschränkungen während der Pandemie denn dazu, dass sich die Situation in bestimmten Weltregionen verschärft, sodass Menschen vermehrt ihre Heimat verlassen müssen?

Scherschel: Aus einer kürzlich erschienen UNO-Studie geht hervor, dass Wirtschaftsbeziehungen durch die Pandemie einbrechen. Auch Investoren ziehen sich zurück. Das führt zu einer stärkeren Verarmung und zu schwierigen ökonomischen Situationen. Aktuell hat die Pandemie ihr höchstes Ausmaß noch in Europa und in den USA. In Afrika sind die Infektionszahlen noch relativ gering. Steigen diese, wird sich die ökonomische Situation weiter verschärfen und mehr Menschen in die Flucht treiben.

Wie ist denn die Situation in Deutschland und in Bayern?

Scherschel: Durch unsere Kooperationspartner am Zentrum für Flucht und Migration wissen wir, dass es in einigen Unterkünften Corona-Ausbrüche gibt. Das hat vielfältige Auswirkungen für den Integrationsprozess der Bewohner: Angebote zur sprachlichen und beruflichen Weiterbildung fallen weg. Die Menschen haben keinen Zugang zur Rechtsberatung, Asylanträge können nur schriftlich eingereicht werden – was dazu beiträgt, dass sich Asylverfahren verlangsamen. Hinzu kommt, dass die Schutzmaßnahmen auf engem Raum nicht eingehalten werden können, hygienische Bedingungen unzureichend sind, zuweilen gibt es keine Schutzmasken. Dies erschwert die Situation der Menschen erheblich.

Verstärkt die Pandemie auch rassistische Übergriffe?

Scherschel: Ja, auch in Deutschland erleben wir seit einiger Zeit vermehrt rassistische Angriffe auf Menschen mit asiatischem Aussehen. Diese Form des Rassismus ist neu. Bisher erfolgten die Übergriffe eher auf „people of colour“ oder auf Menschen, die als muslimisch wahrgenommen wurden. Durch die Pandemie hat sich die Situation verändert. In den Übergriffen zeigt sich eine Mischung aus Angst und Wut. Wenn Menschen mit unklaren Situationen konfrontiert sind, ist eine mögliche Reaktion, Katalysatoren für ihre Ängste zu suchen. Rassismus ist eine dieser Verarbeitungsformen. Das ist tragisch und problematisch zugleich. Oftmals werden dann Schuldige gesucht, die mit der Corona-Pandemie so wenig zu tun haben wie Sie und ich.

Das Gespräch führte Thomas Metten.

 

Zur Person

Karin Scherschel ist Professorin für Flucht- und Migrationsforschung sowie Leiterin des Zentrums Flucht und Migration an der KU. Zu ihren Forschungsgebieten gehören unter anderem die Themen Asyl und Flucht, Menschenrechte sowie Rassismus.