Eigene Stimme, eigene Identität? Forschungsprojekt und Konferenz zu Tieren in der Literatur

Der Esel ist stur, der Hund treu, der Fuchs schlau: Stereotype wie diese sind tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert und begegnen uns nicht nur im Alltag, sondern auch in der Literatur. Dr. Alexandra Tretakov, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, hinterfragt solche klassischen Erzählmuster. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Tierstimmen in literarischen Texten und analysiert, wie Tiere als eigenständige Subjekte sichtbar werden können – mit eigener Identität und Perspektive.

Alexandra Tretakov

Tiere, die wie Menschen agieren, sprechen und denken, finden sich in der Literatur zuhauf. Sei es traditionell der Wolf im Märchen „Rotkäppchen“, in der Kinderliteratur „Die Schule der magischen Tiere“ oder in der Belletristik Marc-Uwe Klings kommunistisches Känguru. Dass diese Herangehensweise so beliebt ist, wundert Literaturwissenschaftlerin Alexandra Tretakov nicht, denn die menschliche Perspektive sei uns nun mal die vertrauteste: „Auf den zweiten Blick bietet die Literatur aber viele andere Möglichkeiten, um Tieren eine Stimme zu verleihen, die nicht allzu anthropomorph, allzu menschlich klingt.“ In ihrem Habilitationsprojekt „Tierstimmen in der Literatur: Poetiken tierlicher Präsenz“ befasst sich Tretakov mit der Erforschung ebensolcher Strategien. So verzichten Bücher wie Juli Zehs  „Socke und Sophie“ bewusst darauf, das Tier in menschlicher Sprache kommunizieren zu lassen, sondern fokussieren sich auf die Körpersprache des Tiers, die auch von den Protagonisten genutzt wird, um mit dem Tier in Interaktion zu treten. Ein weiterer Ansatz findet sich beispielsweise in Yoko Tawadas „Etüden im Schnee“: Der Roman ist aus der Perspektive dreier Eisbären geschrieben. Ein anderes Beispiel ist Michael Köhlmeiers „Matou“, in dem ein Kater die europäische Geschichte aus seiner eigenen Sicht erlebt und so einen ungewöhnlichen, tierischen Blick auf die Menschheit eröffnet – „auch wenn dieser imaginierte Blick letztlich immer ein menschlicher bleiben muss“, wie Tretakov einräumt.

„Tiersensible Literatur vermag gesellschaftliche Impulse zu setzen“

Tretakovs Arbeit steht im Kontext der Cultural and Literary Animal Studies, einem Forschungsbereich, der erst um die Jahrtausendwende entstanden ist. „In dieser jungen Wissenschaft versuchen wir, nicht an Tieren vorbeizulesen, sondern sie als Subjekte mit eigenen Gedanken, als eigenständige Mitwirkende im narrativen Kosmos und darüber hinaus zu verstehen.“ Auch viele Autorinnen und Autoren schreiben mittlerweile gegen tierische Stereotype an. „Durch eine bewusst facettenreiche Gestaltung schaffen sie es, sich von einer eindimensionalen Verniedlichung, Dämonisierung und Instrumentalisierung zu lösen“, erklärt Literaturwissenschaftlerin Tretakov. Dies sei über die Literatur hinaus wichtig, denn, was wir lesen, präge auch unsere Wahrnehmung. Entsprechend ist auch die Frage, wie Tiere in literarischen Texten kommunizieren, für Tretakov mehr als nur eine ästhetische: „Eine tiersensible Literatur vermag gesellschaftliche Impulse zu setzen. Wenn es gelingt, von klein auf das anthropozentrische Denken zu überwinden, entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, dass es nicht allein um die ‚Umwelt‘, sondern um eine ‚Mitwelt‘ geht.“

Untersuchungsbeispiele für ihre Arbeit findet die Forscherin leicht. Immer wieder seien auch unter den Neuerscheinungen Bücher, die Tiere als eigenständige Wesen betrachten und nicht nur als moralischen Platzhalter oder Metapher, darunter auch auflagenstarke Romane wie der jüngst verfilmte „Der Pinguin meines Lebens“ von Tom Michell oder Chloe Daltons „Der Hase und ich“. Insbesondere für Kinder und Jugendliche finden sich zudem gehäuft Grenzgänger zwischen Unterhaltungs- und Sachliteratur wie „Keine bösen Tiere“, in dem die früher als eklig klassifizierte Spinne plötzlich „acht tolle Beine“ hat. Aus Tretakovs Sicht leisten solche Bücher wichtige Arbeit: „Der sensible Umgang mit Tieren wird von der Literatur mit unterstützt, getragen und anerzogen.“ 

Plakat Konferenz

Konferenz zu Tieridentitäten Mitte November

Die Möglichkeiten, Tiere als eigenständige Subjekte in der Literatur darzustellen, stehen auch im Fokus einer Konferenz, die Dr. Alexandra Tretakov, Dr. Nadine Menzel von der Universität Bamberg und die Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Prof. Dr. Friederike Reents, federführend organisieren. Unter dem Titel „(De)Constructing Identities? Tiere in der Literatur“ laden sie vom 13. bis zum 15. November 2025 nach Eichstätt ein. Die Ausrichtung der Tagung ist international und interdisziplinär – ganz gezielt sollen die literaturwissenschaftlichen Perspektiven ergänzt werden um Beiträge u.a. aus der Philosophie, der Theologie, der Zoologie, der Kunst, der Ethnologie und der Neurophysiologie. Für die interessierte Öffentlichkeit wird es zudem einen Einblick in die Welt der Tierliteratur geben: Am 13. November 2025 um 15 Uhr eröffnet die deutsch-österreichische Schriftstellerin Jana Volkmann mit ihrem Poetik-Vortrag „Käfigtüren und Bleistifte. Versuch über Ethik und Poetik des Schreibens über Tiere“ im Holzersaal die interdisziplinäre Tagung. Am 14. November von 17 bis 18.30 Uhr liest die ukrainische Autorin Yevgenia Belorusets aus ihrem Band „Über das moderne Leben der Tiere“. Um die Möglichkeiten anderer Darstellungsformen jenseits der Literatur geht es am 13. November ab 18 Uhr im Filmstudio im Alten Stadttheater: Dort wird „Flow“ gezeigt, ein Animationsfilm, der gänzlich ohne menschliche Sprache auskommt.

Einblicke in Alexandra Tretakovs Forschung gibt es auch im Podcast „Lange Nacht“ von Deutschlandfunk Kultur.