Die großen Veränderungen der Gegenwart zu analysieren und zu begleiten – das ist das Leitthema der School of Transformation and Sustainability (STS) an der KU. Ihre Einrichtung vor zwei Jahren war selbst ein Transformationsprozess, da sie aus der einstigen Fakultät für Religionspädagogik hervorging. Mit der Neutestamentlerin Sabine Bieberstein verabschiedete sich nun eine Professorin mit ihrer Abschiedsvorlesung in den Ruhestand, die diese Transformation aktiv mitgestaltet hat. Zugleich gaben mit Simone Birkel, Rowena Roppelt und Martin Schneider zwei Kolleginnen und ein Kollege ihren nachträglichen Einstand. Alle vier Vorträge stellten die transformierende Wirkung von Hoffnung in Zeiten der Krise in den Mittelpunkt.
Fast zwei Jahrzehnte hatte Prof. Dr. Sabine Bieberstein an der KU gelehrt. Ihr langes akademisches Wirken in Eichstätt und ihre Beiträge zur Theologie wurden bei dem Festakt im Holzersaal mit langanhaltendem Applaus gewürdigt. Begonnen hatte Bieberstein ihre Karriere mit einem Theologiestudium in Tübingen und Wien. 1997 promovierte sie an der Universität im Schweizerischen Fribourg mit einer Dissertation, die unbekannte und vergessene weibliche Figuren im Lukasevangelium beleuchtete. Danach war sie Pastoralreferentin in Bern und Projektleiterin beim Katholischen Bibelwerk in Zürich und übernahm Lehraufträge in der Schweiz und in Deutschland, ehe sie 2006 zur Professorin für die Exegese des Neuen Testaments und Biblische Didaktik an der KU berufen wurde. 2013 übernahm sie auch die Fachvertretung für Altes Testament an ihrer Fakultät. In der Forschung beschäftigte sie sich insbesondere mit Paulus und den frühchristlichen Gemeinden, mit dem Lukasevangelium, der Bedeutung der biblischen Auferstehungshoffnung und mit Genderforschung.
Biblische Literatur: Hoffnung in Zeiten der Krise
In ihrer Abschiedsvorlesung beleuchtete Bieberstein die Entstehung und Wirkung biblischer Literatur vor dem Hintergrund von Krisen und Umbrüchen. Viele biblische Texte seien nicht in Zeiten des Friedens und des Wohlstands verfasst worden, sondern in Momenten existenzieller Bedrohung und Not, so Biebersteins These: „Biblische Literatur ist Katastrophenliteratur – zumindest zu einem guten Teil.“ Bieberstein hob hervor, dass die biblischen Erzählungen oft als Gegengeschichten zu den dominanten Narrativen der Eroberer und Besatzer fungierten. So sei etwa die Mose-Geschichte als Widerstandsnarrativ gegen die assyrischen Eroberungen erzählt worden: „Nicht um das Land mit Kriegen zu überziehen, sondern um das versklavte Volk Israel in die Freiheit zu führen.“ Diese Erzählstrategie diente dazu, „die Widerstandskraft nach innen zu stärken und Hoffnung zu begründen – aus dem Erzählen von Geschichte(n).“
Sabine Bieberstein mit STS-Gründungsdekan Harald Pechlaner und KU-Präsidentin Gabriele Gien
Biblische Texte seien auch dazu verwendet worden, um das Selbstverständnis der Gemeinschaft in Zeiten der Prüfung zu verändern, führte Bieberstein weiter aus. Der Prophet Ezechiel wandelte sich etwa in der Folge von Unheilsprophetien zur Verkündigung einer heilvollen Zukunft, was den Mit-Deportierten neue Perspektiven eröffnete. Ebenso wichtig sei die Rolle von Texten, die Gott neu zu denken vermögen. So stellte Deuterojesaja in Reaktion auf katastrophale Entwicklungen den Monotheismus als kühne Antwort auf die Verehrung fremder Götter dar. Bedeutend in diesem Kontext sei die Fähigkeit biblischer Texte, Zukünfte zu entwerfen, so Bieberstein. Sie beschrieb, wie in der Vision von Ezechiel die verstreuten Gebeine zu neuem Leben erweckt werden. „Bilder überfließenden Lebens, voller Hoffnungskraft“ würden gerade in Zeiten gezeichnet, in denen „von diesem überbordenden Leben noch nichts zu spüren war.“ Diese Zukunftsbilder dienten nicht nur als Ermutigung, sondern auch als kritische Gegenentwürfe zur gegenwärtigen Realität. Biblische Literatur habe somit ein enormes Transformationspotential, so Biebersteins Fazit. Die Texte böten Modelle, um auf die Zumutungen der eigenen Zeit zu reagieren und neue Perspektiven zu entwickeln. „In einer unheilen Gegenwart das Andere denken und Zukünfte entwerfen zu können – davon können wir lernen.“ Biblische Erzähltraditionen hätten daher eine zeitlose Relevanz als Instrumente der Veränderung und Hoffnung.
Hoffnung als Emanzipation
Mit der Rolle der Hoffnung als transformative Kraft setzte sich in seinem Vortrag auch Prof. Dr. Martin Schneider auseinander, den er mit dem Titel überschrieb: „Ohne Wirklichkeitssinn kein Möglichkeitssinn. Über Hoffnung in Zeiten der Zumutung.“ Schneider ist seit 2023 Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der STS – das Fach hatte er zuvor bereits zwei Jahre lang vertreten. Er betonte, dass Hoffnung nicht nur aus positivem Denken besteht, sondern vielmehr aus der Bereitschaft, sich mit den Realitäten der Krise auseinanderzusetzen. Hoffnung sei „eine solidarische Kraft, die uns befähigt, gemeinsam gegen Unterdrückung zu kämpfen“. Eine echte Emanzipation erfordere sowohl eine positive Vision für die Zukunft als auch einen schmerzhaften Bruch mit der Vergangenheit.
Martin Schneider (mit Simone Birkel)
Martin Schneider griff Corine Pelluchons Unterscheidung zwischen "Espoir" (persönlicher Hoffnung) und "Espérance" (transzendenter Hoffnung) auf, um zu betonen, dass echte Hoffnung die Anerkennung von Leid und eine Krisenbewältigungskultur erfordert. Hoffnung bedeute, sich der Ungewissheit zu stellen und Widersprüche auszuhalten. Die „Ideologie der Zumutungslosigkeit“ müsse überwunden werden, um eine reife Hoffnung zu entwickeln. Angesichts der planetaren Grenzen forderte Schneider ein neues Freiheitsverständnis, das die Erhaltung der natürlichen Ressourcen umfasst. Individuelle und gesellschaftliche Transformationen könnten nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn sie einen realistischen Realitätsbezug wahren und die Komplexität der Welt anerkennen.
Religiöse Bildung und utopisches Denken
„Den Hoffnungsmuskel trainieren – utopisches Denken im Kontext religiöser Bildung“ – so überschrieb Prof. Dr. Simone Birkel ihren Antrittsvortrag. Seit Dezember 2022 ist sie Professorin für Religionspädagogik an der KU, wo sie bereits seit 1997 als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte, Lehrkraft und Vertretungsprofessorin lehrte und forschte. Birkel beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem Potential von Geschichten und Narrativen in der religiösen Bildung, um Transformation und positive Veränderung zu fördern – ausgehend von einer Erzählung aus dem Jahr 2055, die eine positive Vision einer Gemeinschaft darstellt, die durch Zusammenarbeit und Vielfalt lebt. Birkels These: Geschichten, die positive Zukunftsvisionen darstellen, können grundlegende emotionale und kognitive Impulse geben. „Hoffnung ist die Brücke zwischen Passivität und Aktivität“, zitierte sie zur Einführung. Sie betonte, in der religiösen Bildung müsse es darum gehen, ein ganzheitliches Lernen zu entwickeln, wobei das „Lernen von Religion“ im Vordergrund stehe. Dies fordere, emotional ansprechende und bildhafte Erzählungen einzusetzen, um Lernende zu motivieren und zu inspirieren, über die gegenwärtigen Krisen hinauszudenken.
Simone Birkel
Utopisches Denken helfe nicht nur, Krisen zu bewältigen, sondern auch aktiv Veränderung zu gestalten. „Positive Zukunftsbilder befeuern eine Lust auf Veränderung und sollen nicht nur die Last des aktuellen Misslingens fokussieren.“ Dies geschehe durch pädagogische Methoden, die Herz, Hand und Kopf ansprechen, wodurch das transformative Potential der Hoffnung freigesetzt wird. In einer Welt, die von Unsicherheit und Komplexität geprägt ist, sei dieser Ansatz ein Weg, um die Resilienz und Kreativität der Individuen zu stärken und zur Schaffung einer gerechteren und nachhaltigeren Zukunft beizutragen.
Die Kraft der Rituale
Prof. Dr. Rowena Roppelt, die seit 2020 die Professur für Liturgik, Dogmatik und Religionspädagogik vertrat und im Oktober 2023 zusätzlich das Amt der „Vice Chair of Study and Teaching“ in der STS übernahm, rückte in ihrem Vortrag die transformative Kraft von Ritualen insbesondere im Kontext ökologischer Verantwortung in den Mittelpunkt. Sie ging der Frage nach, wie die Rituale der fiktiven Gruppe „God’s Gardeners“ aus Margaret Atwoods Roman „The Year of the Flood“ reale ökologische Bewegungen inspirieren können. Atwood selbst wurde zitiert mit der Aussage: „Umweltschutz wird nicht funktionieren, wenn er nicht zu einer Religion wird.“
Rowena Roppelt (mit Blumen) und ihre STS-Kolleginnen
Roppelt zeigte auf, wie Rituale im Roman nicht nur fiktive Darstellungen bleiben, sondern reale Gemeinschaften dazu bewegen, neue Bedeutungs- und Handlungsräume zu schaffen. Diese Rituale würden zu einer Plattform, um alternative Lebensweisen zu erforschen, die auf einer Harmonie von Wissenschaft, Religion und Umweltschutz basieren.
„Ritual ist ein wesentlicher Bestandteil des ökologischen Engagements“, stellte Roppelt fest, weil es den Einzelnen befähige, materielle Veränderungen im eigenen Lebensstil zu integrieren. Indem sie über die konventionellen Grenzen hinweg einen Raum für Reflexion und Erneuerung schaffen, würden Rituale dazu beitragen, ein Bewusstsein für ökologische Herausforderungen zu entwickeln und transformative Praktiken zu fördern. Roppelt schloss mit einem Aufruf an die christlichen Traditionen, ihre eigenen liturgischen Praktiken kritisch zu betrachten, um ihr Potential als „ritual diakonia“ in einer bedrohten Welt zu entfalten, die nach neuen Hoffnungsquellen verlangt.