Europas Perspektiven in Zeiten globaler Machtverschiebungen

Über den „Prozess der quälenden Selbstfindung“ Europas referierte Stefan Kornelius, Leiter des Ressorts Außenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung, im Rahmen der interdisziplinären Vortragsreihe zum Thema "Europa?!" des Forum K’Universale. Der Abend widmete sich der Frage nach Europas Platz innerhalb einer neuen Weltordnung und im zerklüfteten und fragmentierten Raum der internationalen Politik mittels einer kleinen Podiumsdiskussion, an der sich Experten der KU beteiligten: Im Anschluss an den Hauptredner Stefan Kornelius erfolgten eine kurze Response des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Klaus Brummer sowie Statements des Historikers Prof. Dr. Leonid Luks, der die russische Perspektive auf die europäische Frage beleuchtete, und Prof. Dr. Richard Nate, der als Anglist und Leiter des hiesigen Europa-Studiengangs einen Blick auf die aktuellen Ereignisse in Großbritannien warf.

„Zwischen Trump und Xi“ - diesen personalisierten Obertitel habe er seinem Beitrag bewusst gegeben, erklärte Stefan Kornelius zu Beginn seines Vortrags. Das aktuelle Weltgeschehen und die internationale Politik – eine „sehr disruptive Zeit“ – seien von Individuen geprägt, dies stellte er einführend als Signatur dieser Übergangsphase heraus, die er anschließend näher in den Blick nahm. Der mehrfach preisgekrönte Journalist spannte dazu einen weiten Bogen, indem er prägende Ereignisse der Weltgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte zusammenfasste, die Problemlage der aktuellen Machtverschiebungen und -ansprüche skizzierte, die derzeitigen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten sowie China darstellte und kritisch analysierte sowie daraus ableitend nach der Rolle Europas innerhalb einer sich neu konstituierenden Weltordnung fragte.

Ordnung sei grundsätzlich nie auf Dauer ausgelegt und Geschichte alles andere als stabil, so betonte Kornelius im Hinblick auf die sich aktuell ergebenden Verschiebungen; er mahnte aber zugleich die Lesbarkeit der Geschichte an, die dazu geeignet sei, in der derzeitigen epochalen Phase des Umbruchs nach Wiederholungsmotiven Ausschau zu halten.

Zunächst legte der Journalist dann den Fokus auf die aktuelle Ordnungsauflösung in den USA unter Donald Trump. Dieser sei als Präsident jedoch nicht einfach ein „Zufallstreffer der Geschichte“, sondern Symptom einer amerikanischen Gesellschaft, die sich als uneins, zerstritten und gespalten präsentiert. Er verwies damit auf Tendenzen, die älter sind als die Regierung Donald Trumps, schon Barack Obama hatte sich auf Motive wie das „nation building at home“ gestützt und in Entgegnung und Reaktion auf die kriegstreiberische Politik George W. Bushs einen Rückzug Amerikas hin zu einer „inward-looking-ness“ betrieben. Diesbezüglich sprach Kornelius von einer „imperialen Überdehnung“: Amerika flüchte vor seiner Hegemonialität und sehe sich als ausgenutzte Nation, die sich deshalb nun auf sich selbst berufe und zurückziehe.

China hingegen könne aktuell dynamische Bewegungen und ökonomisches Wachstum verzeichnen. Mit der derzeitigen Erweiterung des Radius, der sich beispielsweise in der Errichtung von Stützpunkten zeigt, würden Ambitionen und ein geopolitischer Anspruch Chinas offenbar; das „chinesische Modell“ – eine benevolente Autokratie – stehe in ideologischer Konkurrenz zum Wertesystem des Westens und sei Teil eines neuen Ordnungsmodells. Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen und Entwicklungen stelle sich die Frage nach dem Fortbestehen des multilateralen Modells und der Neudefinition von Machtansprüchen sowie nach Treibern der neuen Weltordnung. Mit an oberster Stelle nannte Stefan Kornelius dabei die Digitalisierung sowie den „information warfare“, durch den das Vertrauen in politische und demokratische Institutionen untergraben wird und sich in der Bevölkerung das Bedürfnis nach einfachen Antworten breitmacht.

Die aktuelle Problemlage innerhalb Europas zeigte der Journalist in diesem Kontext anhand einiger Schlagworte wie Nationalismus, Populismus, Anti-Institutionalismus auf; er verwies auf ein heterogenes gesellschaftliches Publikum sowie die Kluft zwischen wohlhabenden Zentren und der weniger prosperierenden Peripherie wie auch auf Regierungsmodelle innerhalb der EU, die nicht mehr rechtsstaatlich funktionieren. Es lohne sich für die europäische Ordnung zu kämpfen, dieses Fazit zog der Redner schließlich trotz des eher pessimistischen Bildes, das er von der aktuellen Lage gezeichnet hatte: Europa solle seine Werteordnung im derzeitigen Suchprozess der „quälenden Selbstfindung“ noch nicht zu Grabe tragen, sondern sich auf seine Stärken besinnen und diese bündeln.

Den Titel des Hauptreferenten griff in seiner Antwort Prof. Dr. Klaus Brummer auf, indem er sich fragte, was denn eigentlich „zwischen Trump und Xi“ zu finden sei: der Pazifik. Indem er auf die geographische Lage rekurrierte, zeigte er auf, wie unbedeutend die Verortung bzw. die Rolle Europas aus diesem Blickwinkel sei und stellte schließlich in seiner Response zwei Thesen auf: Es sei offensichtlich, was Europa tun müsse, der Wille dazu fehle jedoch. In der Außenpolitik seien Mehrheitsentscheidungen notwendig, die Verteidigungspolitik müsse sich konkret mit den Bedeutungen der Pläne zu einer europäischen Armee auseinandersetzen und die Sicherheitspolitik schließlich benötige Großbritannien weiterhin als wichtiges Mitglied der EU. Zur Umsetzung dieser Bestrebungen sei es jedoch notwendig, Kompetenzen nach Brüssel zu übertragen, und dazu, dies stellte der Politologe heraus, fehle sowohl bei den Parlamentariern als auch innerhalb der Bevölkerung in weiten Teilen die Bereitschaft.

An die realpolitische Analyse Brummers schlossen sich mit den Statements von Prof. Dr. Leonid Luks und Prof. Dr. Richard Nate zwei kulturwissenschaftlich geprägte Betrachtungen an. Leonid Luks verwies dabei auf die osteuropäische Perspektive und betonte, Europa sei das Narrativ ausgegangen und die EU befinde sich in einer Identitätskrise. Richard Nate schließlich beschäftigte sich mit der nicht zu beantwortenden Frage „Quo vadis, Britannia?“ und verwies mit „Retrotopia“, dem letzten Titel des Philosophen Zygmunt Bauman, auf die retrotopischen Züge, die dem Brexit-Geschehen innewohnen und die neoromantischen Zugänge, die den Diskurs prägen. Mit Blick auf die Vergangenheit des United Kingdoms stellte er dessen kontingenten Charakter heraus und verwies auf die transatlantische Prägung, die Großbritannien von jeher besessen hat.

Die anschließende, von Prof. Dr. Martin Kirschner moderierte Diskussion zwischen Podium und Plenum beschäftigte sich mit der Frage, ob der „Niedergang des Westens“ unausweichliches Schicksal sei und welche Visionen man für das europäische Projekt und dessen Rolle innerhalb der Weltordnung entwerfen könne.

Verena Lauerer