Exit vom Brexit: „Großbritannien müsste einen Antrag auf Wiederaufnahme in die EU stellen“

Derzeit befinden sich die Gespräche zum Austritt Großbritanniens nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch innerhalb Großbritanniens in einer heißen Phase. So wird unter anderem auch über eine erneute Abstimmung zum „Exit vom Brexit“ debattiert. Ein Gespräch mit dem Politologen Prof. Dr. Stefan Schieren über die Perspektiven Großbritanniens in der Brexit-Diskussion.

Seit Juni vergangenen Jahres laufen die Gespräche zum Austritts Großbritanniens, nachdem die Briten 2016 mit knapper Mehrheit für den Brexit votierten. Die Befürworter des Brexit argumentierten damals unter anderem, dass man Geld – welches bislang in den EU-Haushalt floss - einsparen und weltpolitisch wieder unabhängiger werden könne. Sind das Argumente, die auch mit zwei Jahren Abstand noch tragen? 

Nein, diese Argumente tragen heute genauso wenig wie bei der damaligen Abstimmung. Die 350 Millionen Pfund, die man angeblich wöchentlich nach einem EU-Austritt ins nationale Gesundheitssystem stecken könne, waren eine unwahre Zahl. Im Gegenteil: Mit Sicherheit würde in Großbritannien eine komplette Umstrukturierung der Wirtschaft, die auf Produkte aus der EU angewiesen ist, sehr viel Geld und Arbeitsplätze kosten – was auch zu politischer und sozialer Instabilität führen kann. Aber auch die Vorstellung, wieder den früheren Stellenwert einer Weltmacht zu erlangen, sind eine – nicht neue – Illusion, vor allem in konservativen Kreisen. Ich denke, bei einer wachsenden Zahl an Menschen in Großbritannien wächst die Einsicht, dass man über die EU zwar an Unabhängigkeit verliert, aber mehr Einfluss über transnationale Abkommen gewinnt. In einer Welt, in der China, die USA und Russland in Zukunft ganz harte politische und wirtschaftliche Konkurrenten sein werden, dürfte ein Volk von 50 Millionen Einwohner deutlich weniger Einfluss haben als ein Land, dass innerhalb einer Gemeinschaft von 500 Millionen Einwohnern operiert. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass eine ganze Reihe von Kritikpunkten, die die Briten heute wie damals über die EU artikulieren – die starke Stellung des Europäischen Gerichtshofes, die Intransparenz vieler Prozesse und das immer wieder beklagte Demokratiedefizit – zu Recht genannt werden. Aber die Konsequenz des Brexit war aus meiner Sicht falsch.

Drückt das damalige Abstimmungsergebnis eine bereits vorhandene Spaltung in Großbritannien aus oder entwickelte sich diese erst im Nachgang zum Brexit-Votum?

Die Spaltungen sind im Land vorher schon vorhanden gewesen. Man kann diese schon seit der Regierung von Margaret Thatcher erkennen – zwischen Nordengland (mit Kohlebergbau und Schiffsindustrie) und dem Süden, zwischen London und dem Rest Englands, aber auch zwischen der schottischen bzw. walisischen Region und dem englischen Kernland. Das Brexit-Votum hat aber diese Spaltungen nicht nur deutlich gemacht, sondern weiter vertieft. Nehmen Sie das Beispiel Schottland: Dort wurde 2014 für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Die Entscheidung, Teil Großbritanniens zu bleiben, hing auch mit dem Argument der britischen Regierung zusammen, dass die Schotten durch eine Abspaltung auch die EU-Mitgliedschaft verlieren würden. Nur zwei Jahre später erklärte dann aber die Regierung– auch für Schottland – den Austritt aus der EU. Und das, obwohl gerade dieser Teil des Landes beim Brexit-Votum mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. Aus schottischer Perspektive stellt sich dann natürlich die Frage, wie glaubwürdig die Politik der Zentralregierung ist. In Nordirland wiederum ist die Situation besonders prekär: Wenn dort wieder eine harte Grenze zur irischen Republik verlaufen sollte, ist zumindest nicht auszuschließen, dass die Gewalt in diese Region zurückkehrt. Dieser Preis wäre zu hoch für den Brexit.

Lassen Sie uns die bisherigen Verhandlungen Revue passieren: Was sind die Kernthemen, die einen Brexit so kompliziert gestalten?

Bleiben wir gleich bei Nordirland: Jedes Abkommen muss in Brüssel die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten erfahren. Es ist aus meiner Sicht nicht zu bezweifeln, dass die Iren keinem Abkommen zustimmen, in dem eine harte Grenze durch ihr Land verläuft. Umgekehrt gibt es wohl in London keine Bereitschaft, einer Sonderregelung zur irischen Grenzfrage zuzustimmen. In der Sache scheint das momentan unlösbar. Hinzu kommt der so genannte Chequers-Plan von Premierministerin Theresa May. Dieser sieht vor, dass zwar Güter weiter frei zwischen dem Kontinent und der Insel gehandelt werden, allerdings soll der freie Zuzug von EU-Bürgern nach Großbritannien enden. Außerdem sollen im Dienstleistungssektor, zum Beispiel im Bankenbereich, eigene Wege beschritten werden. In Brüssel wird das als Rosinenpickerei wahrgenommen. Vor allem aus der Befürchtung, dass dies die Fliehkräfte in der EU verstärken könnte, indem auch andere Mitgliedsstaaten ebenfalls Sonderregelungen für sich reklamieren würden.

Premierministerin May steht innerhalb der Konservativen Partei unter Druck von Brexit-Hardlinern und hat nur eine dünne Mehrheit im Parlament, welches das Verhandlungsergebnis absegnen muss. Gleichzeitig schließt die oppositionelle Labour-Partei eine Zustimmung zu Mays Brexit-Plänen aus. Welche Perspektiven gibt es aktuell noch für das Festhalten an einem Brexit bzw. wie realistisch ist eine erneute Abstimmung darüber?

 In der öffentlichen Diskussion wird ein Aspekt wenig bedacht, der in den Rechtswissenschaften thematisiert wird: Ist ein Exit vom Brexit europarechtlich überhaupt möglich? Eine Position besagt, dass der Austritt zwar noch nicht vollzogen ist, aber unaufhaltsam mit der Austrittserklärung in Gang gesetzt wurde. Wie eine Rücknahme der Austritterklärung aussehen könnte, ist derzeit nicht geregelt. Einige Experten sagen, was nicht geregelt ist, kann man über einen Vertrag klären. Andere vertreten den Standpunkt, dass sich dies nicht außerhalb der europäischen Verträge festlegen lasse. Sicher dürfte sein: Eine Rücknahme des Brexit erfordert die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten. Ob hier eine große Bereitschaft bestünde, ist zumindest in Zweifel zu ziehen. Ansonsten würde man jedem Mitglied die Türe öffnen, den britischen Weg selbst auszuprobieren. Selbst wenn in einem zweiten Referendum – dessen Ausgang übrigens derzeit nicht absehbar wäre - für den Verbleib in der EU gestimmt würde, müsste Großbritannien aus meiner Sicht einen förmlichen Wiederaufnahmeantrag stellen. Die bisherigen Privilegien, die sich das Land bisher erstritten hatte, wären damit aber wiederum passé.

Interview: Constantin Schulte Strathaus

Zur Person: Der Historiker und Politologe Prof. Dr. Stefan Schieren ist Dekan der Fakultät für Soziale Arbeit an der KU. Seine Forschungsschwerpunkte sind Staat und Politik in Großbritannien, europäische und nationale Sozialpolitik und Kommunalpolitik. Er gehört dem Vorstand der Prinz-Albert-Gesellschaft an, die zum Ziel hat, Forschungen über wissenschaftliche, kulturelle und politische Aspekte der deutsch-britischen Beziehungen zu fördern. Darüber hinaus ist Schieren Mitglied im Arbeitskreis Großbritannien-Forschung.