Zum Hintergrund des Forschungsnetzwerkes:
Die Europäische Union scheint am Scheideweg zwischen Zerfall und Erneuerung zu stehen. Eine ganze Reihe von Herausforderungen und Krisen überlagern sich und bedingen einander: Tendenzen gesellschaftlicher Desintegration und Polarisierung, das Erstarken identitärer und populistischer Bewegungen, der Brexit; die Folgen der Finanz- und Staatsschuldenkrise wirken nach, der Klimawandel und die ökologische Gefährdung des Planeten verlangen eine tiefgreifende Veränderung unserer Lebens- und Wirtschaftsweisen, angesichts einer unsicheren Weltlage bekommen autoritäre Regime Aufwind und scheinen die Bündnisse des Westens brüchig zu werden, in der Grenz- und Flüchtlingspolitik geraten Humanität und Menschenrechte in die Defensive. Angesichts der zahlreichen Krisenphänomene stellt sich die Frage nach der Zukunft Europas und nach Möglichkeiten einer tiefgreifenden Erneuerung der Europäischen Union.
Dabei geht es nicht allein um die Formulierung weiterer administrativer Regelungen – besteht eines der grundlegenden Probleme doch gerade darin, dass die EU von einem Großteil der Europäer/innen als technokratisches Konstrukt fernab ihrer persönlichen Lebensrealität und Einflussnahme wahrgenommen wird. Um eine demokratische, von der Bürgerschaft gewollte und getragene europäische Einigung voranzutreiben, muss auf kultureller Ebene angesetzt werden. Im Raum steht die Frage, was die Lebenswelten der Europäer/innen so verbindet oder verbinden könnte, dass sie sich einander zugehörig fühlen und bereit sind, politische Verantwortung füreinander und für das Wohl aller zu übernehmen. Dies weist auf die Ebene der „vorpolitischen Grundlagen des Politischen“ (E.W. Böckenförde): Was konstituiert und trägt eine politische Ordnung? Gibt es in den pluralistischen, (post-)säkularen Gesellschaften Europas so etwas wie eine gemeinsame Identität und ist diese in der Lage sich dem Fremden und Anderen zu öffnen? Was ermöglicht den Zusammenhalt und motiviert eine Solidarität, die über die eigene Gruppe hinausreicht? Lassen sich normative Grundlagen, geteilte Werte und verbindende Ziele formulieren, welche die politische Kultur tragen und Reformen leiten können? Welche Bedeutung kommt dabei der Religion und den verschiedenen religiösen Bekenntnissen und säkularen Überzeugungen zu?
Auf dieser grundlegenden Ebene berühren sich politische, kulturelle und theologische Fragestellungen. Das Verhältnis von Religion und Politik ist unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart und jenseits des traditionellen Verhältnisses von Kirche und Staat neu zu reflektieren. Um diesen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven nachzugehen, hat Prof. Martin Kirschner vom Lehrstuhl für Theologie in den Transformationsprozessen der Gegenwart ein interdisziplinäres und internationales Forschungsnetzwerk aufgebaut. Dieses steht im Zusammenhang des Aufbaus eines KU Zentrums Kirche, Religion, Gesellschaft im Wandel an der KU. Beteiligt sind Wissenschaftler/innen von 18 Universitäten aus acht Ländern. Die insgesamt etwa 40 Forschenden konzipieren in einem gemeinsamen Projekt den Ansatz einer „Performativen Politischen Theologie für Europa“. Dabei erforschen sie, inwiefern religiöse und areligiöse Vollzugsformen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung zu einer politischen Kultur jenseits von Misstrauen und Kontrolle, Resignation und fundamentalistischem Kampfgeist, Polarisierung und Ausschluss beitragen können.