Frankreich nach der Präsidentschaftswahl: Abschied vom etablierten System

Emmanuel Macron ist zum bislang jüngsten französischen Präsidenten gewählt worden. Der Wahlkampf und das Ergebnis beider Wahldurchgänge zeigten, dass die beiden großen politischen Lager in Frankreich erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr alleine die Richtung bestimmen. Neben einer Abkehr von der bisherigen Parteienlandschaft offenbarte die Präsidentschaftswahl auch in Frankreich eine verbreitete Skepsis gegenüber der Europäischen Union. Über die Folgen der Wahl für Frankreich und die EU haben wir mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern Manuel Knoll (Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft, Deutsch-französischer Studiengang Politikwissenschaft) und Andreas N. Ludwig (Lehrstuhl für Internationale Beziehungen) gesprochen.

Was wird aus Ihrer Sicht von Macron programmatisch zu erwarten sein - sowohl bezogen auf die französische als auch die europäische Politik?

Knoll: Das Programm von Macrons Bewegung "En Marche" ist gesellschafts- und wirtschaftspolitisch liberal. Macron hat darin Wirtschaftsreformen, wie z.B. Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst oder steuerliche Entlastungen für Unternehmen angekündigt. Um jedoch eine Aussage über den zukünftigen Kurs des Präsidenten treffen zu können, gilt es die Parlamentswahlen im Juni abzuwarten. Diese werden für die Frage entscheidend sein, ob und wie Macron seine politische Agenda verwirklichen kann.

Ludwig: Frankreich hat über die Jahre einen massiven Reformstau angehäuft, den Macron aufzubrechen angekündigt hat: Insbesondere in den Bereichen Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt und Soziales wird er daher aktiv werden. Seine europäischen Ambitionen sind eng an die nationalen Pläne gekoppelt und doch zugleich von diesen abhängig. Sie reichen von einer Vertiefung der Währungsgemeinschaft durch die in Deutschland seit jeher abgelehnte europäische Wirtschaftsregierung, ein Eurozonen-Parlament, gemeinschaftliche Schuldenhaftung bis hin zu einer weitergehenden Harmonisierung der Sozialpolitiken sowie einen neuen Impuls in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die EU stellt aus Macrons Sicht in all diesen Bereichen sowohl eine Art Schutzschild für ihre Mitglieder als auch einen Katalysator für deren Ambitionen dar. Diese Haltung ist nicht neu in Frankreich, bekommt aber angesichts der Herausforderungen der heutigen EU noch einmal mehr Bedeutung.

 

Nach dem ersten Durchgang der Wahl zeichnete sich deutlich ab, dass die etablierten Parteien bei den französischen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr mehrheitsfähig sind. Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis auf nationaler und europäischer Ebene?

Knoll: Den etablierten Parteien wurde im Endeffekt das Abhalten von Vorwahlen zum Verhängnis. In beiden Lagern hat sich - trotz Öffnung der Wahl für Nicht-Parteimitglieder- gezeigt, dass sich Kandidaten durchsetzen konnten, die eher an den politischen Rändern zu verordnen waren. Gemäßigte Bewerber, wie Manuel Valls bei den Sozialisten oder Alain Juppé bei den Republikanern scheiterten am Wahlmodus der Vorwahlen, an dem hauptsächlich eingefleischte Parteimitglieder teilnahmen. Es ist auffällig, dass mit Emmanuel Macron, Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen gerade die Kandidaten punkten konnten, die sich keiner Vorwahl gestellt haben. Für andere etablierte Parteien in Europa kann dies ein Warnsignal sein, dass sich mehr Basisdemokratie nicht zwangsläufig in einem besseren Wahlergebnis widerspiegelt.

Ludwig: Ich würde die Ergebnisse des ersten Wahlgangs nicht absolut setzen. Die Kandidaten der etablierten Parteien waren (knapp) im Duell der Hoffnungsträger nicht in der Lage den Sprung in den zweiten Wahlgang zu schaffen. Ihr mittelfristiges Wohl und Wehe wird sich bei den Parlamentswahlen im Juni erweisen. In der Tat haben dabei die Konservativen, die „Republikaner“, aktuell bessere Karten als die Sozialisten. Diese stehen, nach einer parteipolitisch für sie katastrophalen Präsidentschaft Hollandes, vor der Herausforderung sich neu zu erfinden und dies zwischen einer erstarkten Linken und einer Mitte, die beide der Parti socialiste nicht nur Wähler, sondern auch Parteimitglieder abspenstig gemacht haben und noch machen werden. Die Bipolarisierung der Parteienlandschaft der V. Republik ist vorläufig Geschichte, künftig werden diese aus meiner Sicht mindestens vier politische Gruppen prägen. Auch auf europäischer Ebene sehe ich kurzfristig kein allgemeines Verschwinden etablierter Parteien. Dass die politische Landschaft in den Mitgliedsstaaten jedoch „bunter“ geworden ist und noch weiter wird, mit allen Konsequenzen für Mehrheitsbildung, politische Auseinandersetzung usw., kann als allgemeiner Trend gesehen werden. Im Europäischen Parlament ist diese Vielfalt übrigens bereits widergespiegelt, sieht man sich die dort vertretenen Fraktionen an.

 

Zwar hat Macron zwei Drittel der Stimmen erhalten. Wahlforscher gehen jedoch davon aus, dass sich faktisch nur ein Drittel seiner Wähler aus Überzeugung für ihn entschieden hat. Der Rest wählte ihn aus Mangel an Alternativen bzw. aus Abneigung gegen die Gegenkandidatin Marine Le Pen. Wie stabil schätzen sie die Basis ein, auf der Macron nun handeln kann?

Knoll: Trotz Abstrichen durch eine schwächere Wahlbeteiligung, hat Macron 66 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Er schnitt damit besser ab, als sein Vorgänger Hollande, der zudem in der Anfangszeit seiner Präsidentschaft von den Konzessionen eingeholt wurde, die ihm der linke Flügel seiner Partei während des Vorwahlkampfs abgerungen hatte. Macron verfügt über mehr Handlungsspielraum, da er solche Zugeständnisse nicht einräumen musste. Trotzdem steht seine Machtbasis auf wackligen Beinen: Er braucht eine Parlamentsmehrheit im Juni, um die Erwartungen erfüllen zu können, die jetzt auf seinen Schultern ruhen. Sollte er die Wahl verlieren, droht eine Kohabitation, d.h. dass er einen Premierminister aus einer anderen Partei ernennen muss.

Ludwig: Letztlich hat Frankreich einen schwachen Präsidenten ins Amt gehoben – zumindest für dessen erste Wochen: Er verfügt über keine breit aufgestellte Partei im Hintergrund, muss politisches Personal auf allen Ebene für seine Bewegung gewinnen, selbst an politischer Erfahrung reicher werden, die Hoffnungen seiner Anhänger ausfüllen und zugleich eine heikle Parlamentswahl bestreiten. Die Messer bei den Konservativen, aber sicher auch den verbleibenden Sozialisten, wurden bereits am Wahlabend gewetzt. Auf Stimmen der Linken und der Rechten wird er ohnehin nicht bauen können. Insgesamt hängt für Macron nun alles vom Ergebnis der Parlamentswahlen ab: Mit jedem Abgeordneten seiner Bewegung mehr in der Nationalversammlung stabilisiert sich seine Position, vorläufig. Unwahrscheinlich ist indes, dass er eine Mehrheit bekommen wird um alleine regieren zu können. Frankreich steht mutmaßlich vor einer sog. Cohabitation. Eine Konstellation, in der Macron wohl mit den Konservativen aushandeln wird müssen, welchen Weg sein Projekt genau nehmen wird. Wieviel in diesem Prozess davon übrig bleibt, bleibt abzuwarten.

 

Marine Le Pen - und damit ihre rechtsextreme Partei "Front National"-  hat ein Drittel der Stimmen erhalten. Spiegelt dieses Ergebnis eine Grundhaltung in der französischen Gesellschaft wider oder kam es erst durch den Wahlkampf zu einer Zuspitzung?

Knoll: Unter Marine Le Pen hat sich der Front National zu  einer festen Größe in der französischen Parteienlandschaft entwickelt. Ihre Strategie der Ent-Diabolisierung und das damit verbundene Zerwürfnis der Partei mit seiner Gründungsfigur, Jean-Marie Le Pen, hat dazu beigetragen, dass der Front National weitere Wählerschichten erschließen konnte. Vielleicht hätte der FN sogar noch besser abgeschnitten, wenn Marine Le Pen im TV-Duell mit Macron weniger aggressiv aufgetreten wäre. Dies hat laut Umfragen dann doch abschreckend gewirkt.

Ludwig: Madame Le Pen hat es in ihrer Rede am gestrigen Abend selbst auf den Punkt gebracht: auf der einen Seite die „Patrioten“, auf der anderen die „Mondialisten“. Diese Spaltung in der französischen Gesellschaft, die sich primär immer wieder am Thema Europa zeigt, mag im Wahlkampf noch einmal vertieft worden sein, neu ist sie nicht. Zum Stichwort des Rechtsextremismus gilt es indes im französischen Fall anzumerken: Marine Le Pen hat den Front National – zumindest auf den ersten Blick von der klassischen französischen Extremen-Rechten, geprägt von Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus usw., für die ihr Vater stand, distanziert. Ihr ist es in den vergangenen Jahren gelungen, europa- und globalisierungskritische Themen weiter salonfähig zu machen und sich als politische Alternative, für manche als Hoffnungsträgerin, in der Gesellschaft zu verkaufen. Davon künden auch die Zahlen dieser Wahlen: Die Partei hat es geschafft, so viele Wählerinnen und Wähler anzusprechen wie nie zuvor, Kerninhalte – besonders in Sicherheits- und Migrationsfragen, aber teils auch zu Europathemen – wurden von anderen politischen Kräften aufgegriffen, neue Allianzen sind entstanden, etwa mit den Neogaullisten um Nicolas Dupont-Aignan, der im ersten Wahlgang immerhin fast 1,7 Millionen Stimmen bekommen hat. Angesichts dieser Umstände ist mit Marine Le Pen und ihrer Bewegung weiter zu rechnen, zumal die tieferen Gründe für die Kluft zwischen „Patrioten“ und „Mondialisten“ weder innenpolitisch noch auf europäischer Ebene in absehbarer Zeit beseitigt sein dürften.

Lassen sich aus dem Ergebnis Schlüsse für andere nationale Wahlen in Europa ziehen - etwa für die im Herbst anstehende Bundestagswahl?

Knoll: Weniger aus dem Ergebnis, sondern eher aus der Art und Weise der Kampagnen lassen sich Schlüsse für kommende Wahlen ziehen. Der Wahlkampf in Frankreich, wurde ähnlich, wie die jüngsten Präsidentschaftswahlen in den USA und in Österreich sehr hart, teils mit Angriffen auf persönlicher Ebene geführt. Vor allem rechtspopulistische Kandidaten nutzten massiv "negative Campaigning". Hinzu kamen vom Ausland gesteuerte Hackerangriffe und das gezielte Streuen von Falschmeldungen, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Hier zeichnet sich ein Trend ab, der sich vermutlich auch bei kommenden Wahlen, wie z.B. der Bundestagswahl fortsetzen wird.

Ludwig: Es stehen 2017 noch mindestens zwei große Wahlen in Mitgliedsländern der EU an: im Vereinigten Königreich am 8. Juni und in Deutschland am 24. September. Die Liste der Unterschiede zwischen den Systemen, anstehenden Problemen und parteipolitischen Konstellationen ist zu lang. Folgenlos bleibt der Ausgang der Wahlen, aber auch der Wahlkampf zuvor, indes für beide Fälle nicht: Macrons Sieg ermöglicht es der Regierung in London vorläufig, weiter an der Vorstellung festzuhalten, mit der EU konstruktiv über den Austritt und die gemeinsame Zukunft verhandeln zu können. Wäre Frankreich unter Marine Le Pen auf Konfrontationskurs mit Brüssel gegangen, hätte dies die Gespräche mit dem Vereinigten Königreich mindestens unterminiert und damit Theresa Mays Versprechen eines geordneten Verfahrens im Interesse aller.
Die deutsche Seite kann seit gestern davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren vordergründig Kontinuität im Verhältnis mit Paris herrschen wird, was für den immer gleichen Diskurs der Entscheidungsträger in Berlin mit Blick auf „Europa“ von erheblicher Bedeutung ist. Dass Macron jedoch nicht zwangsläufig der starke Präsident bzw. der stets angenehme Partner der Deutschen sein wird, ist ein Umstand, den alle Kandidatinnen und Kandidaten besser früher als später ernstnehmen sollten. Gerade die Verwerfungen und Absichten, die der französische Präsidentschaftswahlkampf in Sachen „Europa“ zutage gebracht hat, sollten auch in der bundesdeutschen Politik für mehr Unruhe und selbstkritisches Hinterfragen der eigenen Positionen sorgen.

 

Manuel Knoll, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft sowie beim deutsch-französischen Studiengang Politikwissenschaft

 

 

 

Andreas N. Ludwig, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen