Geraubt oder gerettet? Universitätsbibliothek erforscht Herkunft jüdischer Bestände

Mit einem eigenen Forschungsprojekt hat sich die Bibliothek der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) auf Recherche zur Herkunft von vier hebräischen Handschriften und 54 hebräischen Werken aus dem 17. bis 20. Jahrhundert begeben, um mehr Licht in die verworrene Geschichte dieses Bestandes zu bringen. Konkret galt es, zu klären, ob es sich dabei um NS-Raubgut handelt. Denn das Konvolut stammt aus Sulzbürg – einem Ort südlich von Neumarkt in der Oberpfalz, aus dem im Mai 1942 die letzten jüdischen Bewohner deportiert wurden. Die Handschriften und Bände gehören zum Bestand des Eichstätter Priesterseminars, den die Universitätsbibliothek in ihrer Obhut hält und kontinuierlich bearbeitet.

Im Wesentlichen handelt es sich bei den Bänden aus Sulzbürg um weit verbreitete religiöse Gebrauchsliteratur. Hinzu kommen ein Schuldenbuch aus der Zeit von 1771 bis 1855, sowie ein Tora-Fragment und ein Buch Esther in Form von Pergamentrollen. Neben den Spuren intensiver, teilweise offensichtlich jahrzehntelanger Benutzung weisen zahlreiche Bücher handschriftliche Besitzvermerke auf. Im Zentrum des Projektes steht nicht der materielle Wert des Bestandes: „Uns ist es ein Anliegen und eine Selbstverpflichtung, soweit wie möglich Transparenz für diesen Bestand herzustellen. Zum einen im Hinblick auf die Besitzverhältnisse, zum anderen aber auch durch die vollständige Digitalisierung der Bände“, erklärt Dr. Heike Riedel als Leiterin der Abteilung Historische Bestände an der Universitätbibliothek. Als Regens des Priesterseminars betont Michael Wohner: „Es gilt, Licht ins Dunkel zu bringen und den früheren Besitzerinnen und Besitzern einen Namen zu geben.“ Das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste hat das Projekt finanziell unterstützt. Begleitet wurde es von einer Arbeitsgruppe, zu welcher unter anderem der emeritierte Eichstätter Theologieprofessor Dr. Erich Naab sowie Prof. Dr. Heide Inhetveen gehören. Die emeritierte Professorin für Soziologie der Universität Göttingen hat seit Jahren die Geschichte jüdischer Familien im Rabbinat Sulzbürg erforscht.

Der frühere Regens des Eichstätter Pristerseminars Prof. Dr. Andreas Bauch übergab kurz vor seinem Tod 1985 der Seminarbibliothek die vier Handschriften und 54 gedruckte Werke in hebräischer bzw. jiddischer Sprache. Bauch hatte den Bestand von Pfarrer Heinrich Meißner (1914-2001) erhalten, der von 1944 bis 1984 als katholischer Ortsgeistlicher in Sulzbürg tätig war. Unbekannt ist allerdings, wann Meißner den Bestand an Bauch übergeben hat. Leider wurde es versäumt, ihn zu Lebzeiten über die näheren Umstände zu befragen. Und so muss es trotz intensiver Recherche bis dato Spekulation bleiben, wie die Bände in den Besitz des Pfarrers gelangten. Da er erst zwei Jahre nach Deportation der letzten Juden aus Sulzbürg dort seine Stelle antrat, kann er sie zumindest nicht von ursprünglichen Besitzern erhalten haben. In Sulzbürg wie in den umliegenden Orten war allgemein bekannt, dass sich Meißner für Altertümer aller Art interessierte. Es könnte also durchaus sein, dass er einzelne Bücher aus ehemals jüdischen Häusern angeboten bekam oder sogar gezielt danach fragte. Nahe liegt, dass die Sammlung in dieser Form erst von Meißner zusammengestellt wurde.

Ungeklärt bleibt, ob die Bände Sulzbürg in der Zeit nach 1942 je verlassen haben. Laut Einschätzung einer Restauratorin sind die Bände keiner physischen Gewalt ausgesetzt worden – etwa bei der Schändung der Sulzbürger Synagoge im November 1938. Unklar ist wiederum auch, was vor 1942 mit den Bänden geschah, denn der jüngste Eintrag stammt aus den 1920er-Jahren. Durch welche Hände die Bücher in dieser Zeit gingen, ist nicht dokumentiert.

Auffällig ist, dass keiner der Bände mit offiziellen Stempeln gekennzeichnet ist – weder von der Gemeinde noch von der Gestapo. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es sich bei dem Bestand ursprünglich um Privatbesitz handeln muss. Möglicherweise wurden die Bände später zusammen in der Synagoge verwahrt. Dieses Gebäude kaufte 1942 eine Geschäftsfrau, die darin ein Kaufhaus betrieb und Wohnungen vermietete. Zeitzeugen schilderten Professorin Inhetveen, dass die Geschäftsfrau in gutem Einvernehmen mit dem Ortsgeistlichen gestanden habe. Ein Beleg, dass sie die Bände an Meißner übergeben hat, findet sich aber nicht.

Der Historiker und Judaist Dr. Wenzel Widenka hat als Projektmitarbeiter unter anderem auch im Staatsarchiv Amberg Unterlagen eingesehen, in denen nach dem Krieg die Besitzverhältnisse der früheren Synagoge thematisiert wurden. „Von den in den Bänden erkennbaren Personen hat nur eine Frau überlebt. Sie hat der Geschäftsfrau einen ,Persilschein‘ im Hinblick auf eine etwaige nationalsozialistische Gesinnung ausgestellt.“

Widenka hat – soweit möglich – außerdem die handschriftlichen Vermerke übersetzt. Diese reichen von Besitzereinträgen bis zu Schreibübungen von Kindern. Anhand dieser Angaben und bekannten Informationen über das jüdische Leben in der Region, konnte er zumindest einige Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer namentlich ermitteln. Mit Karoline Regensburger hat nur eine von ihnen den Holocaust überlebt. Diese starb bereits 1950 in einem Nürnberger Altenheim. Ihr Ehemann war bis 1931 jüdischer Gemeindevorsteher von Sulzbürg. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich auch nach der sogenannten Machtergreifung und insbesondere nach der Schändung der Synagoge und der Verbrennung von Schriften im Zuge der Pogromnacht um jüdische Bücher kümmerte und sie in seinem Haus aufbewahrte – Bücher, die man spätestens im Zuge der Arisierung des Gebäudes dort vorfand.

Zwar lässt sich die Herkunft der Sulzbürger Judaica nicht vollends klären, doch handelt es sich bei dem Bestand um eine überaus wichtige Quelle für das geistige Leben in der bedeutenden jüdischen Gemeinde Sulzbürg sowie ein einzigartiges Zeugnis für die Geschichte des ländlichen Judentums in der Oberpfalz. Denn im Unterschied zu Franken und Schwaben wies die Oberpfalz insgesamt nur wenige Orte mit jüdischen Gemeinden auf. „Durch unsere Recherchen wollen wir die in den Bänden genannten Namen mit einer Bedeutung und einer Geschichte versehen – bedenkt man zum Beispiel, dass der frühere Gemeindevorstand Emanuel Regensburger, der in einigen der Bücher Notizen hinterlassen hat, als 89-Jähriger aus Sulzbürg nach Theresienstadt deportiert wurde und hier umgekommen ist. Unser Ziel ist es, dass diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten. Zudem fühlen wir uns verpflichtet, weiterhin zu Nachkommen dieser Personen zu recherchieren“, schildert Dr. Heike Riedel.

Der Bestand aus Sulzbürg ist von der Universitätsbibliothek digitalisiert worden und verfügbar unter
http://digital.bib-bvb.de/collections/KUEI/#/collection/DTL-6056

Unter dem Titel „Geraubt oder gerettet? – Die Sulzbürger Judaica in der Eichstätter Hofgartenbibliothek“ wird Dr. Wenzel Widenka am Dienstag, 20. Juli, ab 19 Uhr in einem Online-Vortrag über das Projekt und die Recherchen dazu berichten. Die Zugangsdaten für die Teilnahme finden sich im Veranstaltungskalender der KU.

 

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(v.r.) Dr. Heike Riedel (Leiterin der Abteilung Historische Bestände an der Universitätbibliothek), Regens Michael Wohner, Projektmitarbeiter Dr. Wenzel Widenka und Dr. Franz Heiler (stellvertretender Leiter der Abteilung Historische Bestände) mit einer Auswahl der Bände aus Sulzbürg.
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In den Bänden finden sich neben Notizen und Schreibübungen auch Zeichnungen, die Kinder darin hinterlassen haben.
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Bei der Recherche zur Herkunft des Bestandes galt es, die handschriftlichen Vermerke zu entziffern und zu übersetzen.
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Im Wesentlichen handelt es sich bei den Bänden aus Sulzbürg um weit verbreitete religiöse Gebrauchsliteratur. Diese weisen zum Teil Spuren intensiver und jahrzehntelanger Nutzung auf.