Hohe Kunst oder auf Augenhöhe? Musikprojekte in Krisenregionen

Mit Musik die Welt verändern und zu Frieden und Versöhnung beitragen – zahllose Projekte weltweit verfolgen solche Ziele, um ein Stück „heile Welt“ in Krisengebieten zu schaffen. Doch mit welchen Intentionen verfolgen sie dabei welches Verständnis von Musik und Kultur? Lassen sie sich auf die Traditionen und Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder ein oder transferieren sie ein westliches Verständnis unverändert in eine andere Gesellschaft? Und welche Effekte haben die Projekte vor Ort? Marion Haak-Schulenburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik der KU, untersucht die Wurzeln und Wirkungen des Musikbegriffes am Beispiel zweier Institutionen, die in Palästina tätig sind. Damit knüpft sie an den Schwerpunkt „Community Music“ der Professur an, der musikalische Projekte mit Fragen von Inklusion, kultureller Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit verbindet. Die KU bietet zudem als europaweit erstes Studienangebot dieser Art den Masterstudiengang „Inklusive Musikpädagogik/Community Music“.

Haak-Schulenburg studierte zunächst Musik und Englisch in Berlin an der Universität der Künste sowie der Humbold-Universität, um Lehrerin zu werden. Nach dem ersten Staatsexamen bot sich ihr jedoch die Möglichkeit, für drei Jahre an der Musikschule der Barenboim-Said-Stiftung im palästinensischen Ramallah zu arbeiten. Diese geht zurück auf den berühmten Dirigenten Daniel Barenboim und den aus Palästina stammenden Literaturwissenschaftler Edward Said, die 1999 das renommierte „West-Eastern Divan Orchestra“ gründeten. Das Ensemble setzt sich aus arabischen und israelischen Musikerinnen und Musikern zusammen, so dass es als Symbol für die Möglichkeit von Koexistenz und Frieden in der Region fungiert. Ausgangspunkt für die Musikschule waren die begrenzten Möglichkeiten für arabische Musikerinnen und Musiker, sich professionell weiterzubilden. Die Schule richtet sich jedoch auch an Kinder und Jugendliche und bietet diesen Unterricht für Orchesterinstrumente und Klavier.

Parallel zu ihrer Arbeit in der Musikschule kam sie in Kontakt mit der niederländischen Organisation „Musicians without Borders“, die weltweit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für die musikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ausbilden. Haak-Schulenburg gründete so Kinderchöre in Ramallah und verschiedenen Dörfern sowie dem Balata Flüchtlingslager in Nablus. Wichtiger Bestandteil des Repertoires waren nicht klassische Musik, sondern arabische Lieder, Rhythmen und Tänze. „Diese Kinder leben meist in ärmsten Verhältnissen und haben eine schlechte Schulbildung. Sie findet man gerade nicht im klassischen Musikunterricht der Barenboim-Said-Stiftung“, berichtet Marion Haak-Schulenburg. Aus dem Kontrast beider Erfahrungen erwuchs für die Wissenschaftlerin die grundlegende Frage ihrer Doktorarbeit, aus welchen Wurzeln das jeweilige Musikverständnis solcher Initiativen erwächst und welche Wirkung es entfaltet.

„In Palästina gibt es viele Projekte, die den Menschen in ihrer schwierigen Situation Zugang zu Kultur bieten wollen. Das ist jedoch in der Regel europäisch geprägte Kultur – ohne kritische Reflexion darüber, ob das Angebot überhaupt Sinn macht. Blickt man dann ins Publikum, taucht dort meist nur eine bestimmte Schicht der einheimischen Bevölkerung auf, die sich am Westen orientiert, sowie Europäer oder Amerikaner, die vor Ort tätig sind“, so Haak-Schulenburg. Wie sie in Interviews vor Ort feststellte, gilt dies auch für die klassisch ausgerichtete Musikschule der Barenboim-Said-Stiftung, die ihr Angebot nur an Privatschulen bewerbe. Die Schülerinnen und Schüler stammten aus Familien der bildungsorientierten Mittel- und Oberschicht, besuchten überwiegend christliche Schulen und betrieben sogar mehrere Hobbies – undenkbar für Kinder, die staatliche Schulen besuchen. „Die Musikschule setzt sich jedoch den weitreichenden Anspruch, in Palästina zu einer gesellschaftlichen Transformation beizutragen. Es genügt aber nicht, zu hoffen, Musik werde es schon richten und Beethovens Fünfte habe es schon immer gerichtet“, so Haak-Schulenburg. Es stehe außer Zweifel, dass die Musikschule sinnvolle Arbeit für die Schülerinnen und Schüler leiste. Die Tradition einer Autonomie der Künste beinhalte jedoch auch eine Haltung von Hegemonie.

Dieses auf das Werk konzentrierte Musikverständnis habe auch Auswirkungen auf die Förderung entsprechender Projekte: So habe ein Berliner Jugendorchesterprojekt mit geflüchteten Kindern nach einem halben Jahr keine Förderung mehr erhalten, da die Resultate zu wenig künstlerisch seien und zu sozial gearbeitet werde. „Klassische Musikpädagogik hat das Ziel, Musik im Hinblick auf einen Lehrplan zu vermitteln – verbunden mit formalen Fähigkeiten, wie etwa dem Notenlesen. Community Music hingegen will zusammen mit Menschen Musik entstehen lassen – frei von Vorkenntnissen und Fähigkeiten“, erklärt Haak-Schulenburg. Eine pädagogische Lehrabsicht stehe dabei im Hintergrund, es geht vielmehr um kollaboratives Arbeiten. „Es ist an der Zeit, diese Hierarchisierung zu revidieren und ein erweitertes Verständnis von Kunst in das Nachdenken und die Finanzierung von künstlerischer und pädagogischer Praxis einzubringen.“

Die Organisation „Musicians without Borders“ betreibe laufend wissenschaftlich fundierte Evaluation – vor allem im Hinblick auf einzelne Personen, um deren Entwicklung zu verfolgen. Dabei sei festzustellen, dass die Teilnehmenden eine höhere Resilienz gegenüber Krisen entwickeln, weil sie durch die Musik gelernt haben, kreativ zu denken und zu handeln. „Sie haben gelernt, ihre eigene Stimme zu benutzen und diese hörbar zu machen. Sie haben die Schwelle überschritten, an der sie Angst davor haben, gehört zu werden. Sie haben erfahren, dass sich eine Gruppe aus sich selbst heraus Stärke geben kann. Darüber hinaus verspüren sie mehr Hoffnung, lassen sich weniger in Gewalt verwickeln und sind eher dazu bereit, aufeinander zuzugehen“, so Haak-Schulenburg.

Bei allem Hoffen und Arbeiten für eine bessere Welt solle ein kritisches Bewusstsein dafür entwickelt werden, ab wann Initiativen ihre eigenen Vorstellungen und Muster zur Norm erklären. „Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass Musikprojekte, die in der Gesellschaft wirklich etwas bewirken wollen, sich darüber bewusstwerden, welchen Musikbegriff sie verfolgen. Das schließt klassische Musik keinesfalls aus, setzt aber eine andere Form des Zugangs voraus“, betont die Wissenschaftlerin. Absolut notwendig dazu sei der unmittelbare Austausch mit einer Vielfalt von Ansprechpartnern vor Ort: Wo macht Aktivität Sinn und wo nicht? Eurozentrismus sei so tief in uns verankert, dass man auf manche Fragen gar nicht komme. „So habe ich erst durch die Interviews vor Ort bemerkt, dass in Palästina mit dem Begriff Musik in der Regel mit Instrumentalmusik verbunden wird. Gesang hingegen zählt im dortigen traditionellen Verständnis zur Poesie.“

Hintergrund
Die Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik veranstaltete Ende vergangenen Jahres erstmals eine internationale Winter School "Community Music", bei der sich Studierende und Forschende aus Kanada, England, Irland und Deutschland zu aktuellen Forschungsergebnissen aus diesem Themenbereich austauschen. Ein eigener Youtube-Kanal versammelt Beiträge der Veranstaltung. Darunter auch dieses Video-Interview mit Marion Haak-Schulenburg:

Vorschau Haak

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