Erst das Erinnern oder auch Nicht-Erinnern von Geschichte weist der Vergangenheit Bedeutung für Gegenwart und Zukunft zu. Doch welche spezifische Bedeutung haben besonders zivilgesellschaftliche Initiativen für die öffentliche Erinnerungskultur in Deutschland? Dies untersucht das Zentrum Flucht und Migration (ZFM) der KU und will damit auch Impulse für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft geben.
Wie soll an die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Folgen des europäischen Kolonialismus sowie an rassistische und antisemitische Gewalttaten der Gegenwart erinnert werden? Und welche Schlussfolgerungen leiten sich aus der Vergangenheit für die aktuelle Politik ab? Auf verschiedenen Ebenen wird darüber laufend öffentlich diskutiert – sei es im Bundestag, Diskussionsrunden oder im politischen Feuilleton. Im Zentrum stehen dabei jedoch meist Aspekte der offiziellen Erinnerungskultur. „Zwar hat die Forschung zu Erinnerungspolitiken in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, relativ wenig Aufmerksamkeit haben bislang jedoch lokale zivilgesellschaftliche Initiativen erhalten. Und dies, obwohl sie die Gedenkpraxis in den letzten Jahrzehnten – zum Teil in Opposition zur offiziellen Gedenkkultur – erheblich mitgeprägt haben“, schildert Prof. Dr. Karin Scherschel, Leiterin des Zentrums Flucht und Migration (ZFM) an der KU. Trotz dieser erheblichen Potenziale seien sie bislang kaum im systematisierenden Vergleich erforscht worden. An dieser Leerstelle wollen die beteiligten Forschenden mit ihrem Verbundvorhaben unter dem Titel „Erinnerung, Zivilgesellschaft, Rassismus, Antisemitismus“ (EZRA) ansetzen. Das ZFM kooperiert dabei gefördert vom Bundesforschungsministerium mit dem Lehrstuhl für Politikdidaktik und Politische Bildung der Freien Universität Berlin.
Prof. Dr. Karin Scherschel, Leiterin des Zentrums Flucht und Migration an der KU
Zivilgesellschaftliche Initiativen verfügen über Wissens- und Praxisformen, die für eine demokratische Gedenkkultur und die Entwicklung historisch-politischer Bildung höchst bedeutsam sind. Dabei geht es den Beteiligten um mehr als eine reine Bestandsaufnahme. Professorin Scherschel betont: „Die historisch-politische Bildung und Initiativen zur Erinnerung an antisemitische und rassistische Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart haben eine zentrale Bedeutung für die Bekämpfung antidemokratischer und menschenfeindlicher Ideologien.“ Deshalb werden die Forschenden ihre Erkenntnisse über die im Laufe des Projektes zu entwikelnde Online-Plattform EZRA didaktisch aufbereiten und so für die politische Bildung zur Verfügung stellen. Mitwirken werden daran auch verschiedenen Partnerinnen aus der Praxis, wie etwa die Bildungsstätte Anne Frank, die Arbeitsgemeinschaft deutscher Bildungsstätten, der Verband binationaler Familien und Partnerschaften oder die Stiftung für die internationalen Wochen gegen den Rassismus.
In einem ersten Schritt werden die Forschenden 20 zivilgesellschaftliche Initiativen in West- und Ostdeutschland empirisch untersuchen, die in großen Städten oder im ländlichen Raum aktiv sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um Gruppen, die Stadtführungen zu den Spuren kolonialer Geschichte in den jeweiligen Kommunen anbieten, lokale „Stolperstein“-Initiativen, die auf Opfer des Nationalsozialismus aufmerksam machen, oder Initiativen, die rassistische und antisemitische Gewalt nach 1945 thematisieren. In Diskussionen mit den Beteiligten und anhand von Dokumentationen wollen die Forschenden zunächst herausfinden, wie die Engagierten Rassismus und Antisemitismus definieren, welche Konzepte von Geschichte, Gesellschaft und öffentlichen Diskurs sie verfolgen und welche (Bildungs-) Ziele sie haben. Zudem wollen sie herausfinden, wie sie mit öffentlichen Kontroversen umgehen und wie relevant für sie inhaltliche Spannungsfelder sind.
Dabei werden auch solche Initiativen untersucht, die „Erinnerung“ zwar nicht explizit als primäres Ziel benennen, jedoch faktisch Erinnerungsarbeit leisten, indem sie Gewaltverhältnisse und -ereignisse etwa zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung machen. „Diese Initiativen zu untersuchen, leistet einen Beitrag zum Verständnis der Diversität zivilgesellschaftlicher Erinnerungspolitik, da sie einerseits eine Erweiterung des Erinnerungsbegriffs und andererseits eine Thematisierung der Pluralität von Erinnerungen betreiben“, schildert Professorin Scherschel. Während die Untersuchung der Initiativen überwiegend von Forschenden der KU durchgeführt wird, erfolgt die anschließende didaktische Aufbereitung gemeinsam mit der Kooperationspartnerin Prof. Dr. Sabine Achour an der Freien Universität Berlin.