„Inklusion ist kein Restebecken“ – Hürden und Perspektiven für mehr Bildungsgerechtigkeit

Wie bereitet die Bildungslandschaft auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft vor? Und was bedeuten Inklusion und Teilhabe konkret im Hinblick auf die Gerechtigkeit von Bildung? Bei einem Online-Talk des Projektes „Mensch in Bewegung“ von Katholischer Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) und Technische Hochschule Ingolstadt (THI) haben dazu die bekannte Autorin und Aktivistin Kübra Gümüşay sowie der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen diskutiert. Den Schwerpunkt legten sie dabei auf das Schulsystem. Die Veranstaltung war zugleich Abschluss des Themenjahres „Bürgerschaftlichen Engagement“ von Mensch in Bewegung. Denn auch die Freiwilligenarbeit von Bürgerinnen und Bürgern ist sehr eng verbunden mit individuellen Lern-Erfahrungen.

KU-Präsidentin Prof. Dr. Gabriele Gien betonte in ihrer Begrüßung, dass die Frage von Bildungsgerechtigkeit zu den gesellschaftlichen Herausforderungen gehöre, mit denen sich die KU aus ihrem Selbstverständnis als engagierte Universität in Forschung und Lehre befasse: „Interkulturalität, Diversität und Globalität werden nicht nur künftige Lehrkräfte, sondern alle unsere Studierende als Themen begleiten.“ Auch THI-Präsident Prof. Dr. Walter Schober charakterisierte Bildung als „Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe“. Barrierefreiheit sei dabei der Ausdruck einer persönlichen Einstellung und beschränke sich nicht etwa auf den Zugang zu Gebäuden.

Raul Krauthausen veröffentlichte bereits 2014 seine Biographie unter dem Titel „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“. Er hat sogenannte Glasknochen und ist auf den Rollstuhl angewiesen. An seine Schulzeit in Berlin erinnert er sich gern, da er Rahmenbedingungen hatte, die bis heute die Ausnahme sind: „Nachdem ich einen integrativen Kindergarten besucht hatte, wurde 1986 der komplette Jahrgang an eine Grundschule übernommen. Diese war gekennzeichnet von kleinen Klassen und der parallelen Betreuung durch zwei Lehrkräfte“, berichtete Krauthausen. Er habe dabei selbst erfahren, dass nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund oder Behinderung eine gezielte Unterstützung benötigen. Umso unverständlicher sei es für ihn, dass sich bis dato keine wesentliche Änderung im Schulsystem vollzogen habe.

„Wir tun uns schwer damit, Schule zu reformieren. In Finnland etwa lernen Kinder nicht Fächer, sondern Phänomene. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen dazu im Team arbeiten, was entsprechendes Personal voraussetzt“, so Krauthausen. In Deutschland hingegen müssten die Lehrkräfte immer mehr arbeiten „und nun sollen auch noch die Menschen mit Behinderung in die Regelschule kommen“. Der Unmut sei verständlich. Aber neben der Ressourcenfrage müssten Lehrkräfte dazu befähigt werden, ihre eigene Unsicherheit im Hinblick auf die Umsetzung von Inklusion im Schulalltag abzubauen. „Wenn wir die Ressourcen nutzen würden, die in Gymnasien und Förderschulen stecken, ließe sich eine Schule für alle realisieren, in der alle Kinder mindestens bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen.“ Inklusion dürfe nicht als „Restebecken“ missverstanden werden, in dem man ausschließlich Menschen mit Förderbedarf zusammenfasse. Entsprechende Eindrücke hatte Krauthausen beim Besuch einer Schule gesammelt, die sich selbst als Inklusionsschule bezeichnet. Vielmehr bilde Inklusion eine Form des gemeinsamen Lernens, bei der die individuellen Voraussetzungen für Bildung keine Hürde darstellen dürfen. Gerade Kinder ohne Behinderung seien es, die in integrativen Schulen etwa von kleinen Klassen profitierten, weil sie schlicht in der Mehrheit seien.

Anknüpfend daran schilderte Kübra Gümüşay, dass Ausschlussmechanismen nicht nur bei körperlichen Einschränkungen greifen, sondern auch im Hinblick auf die Herkunft: „Das Verhalten von Lehrkräften hat hier auch eine Vorbildfunktion für Kinder und Jugendliche. Es geht mir nicht darum, dass jeder studieren muss. Es geht darum, wem welche Wege ermöglicht, bei wem sie verhindert und wie bestimmte Wege charakterisiert werden.“ Nur weil bestimmte Berufe ein Studium erforderten, seien sie nicht inhärent besser als etwa ein Handwerksberuf. Inklusion bedeute für sie, umsichtig zu sein und Empathie zu üben: Welche Wirkung entfaltet welches Verhalten? Es sei schade, dass dies im Schulsystem nicht kultiviert werde als zentrales Element für die Gesellschaft.

Nach Meinung von Raul Krauthausen stelle sich „ernsthaft die Frage, wie rassistisch eigentlich unser Bildungssystem ist, wenn wir zunehmend wir zunehmend Kinder mit Migrationshintergrund attestieren, dass sie nicht lernfähig sind und in Förderschulen stecken“. Anstatt Förderschulen auszubauen, sollten sie zugunsten von inklusiven Schulen zurückgefahren werden. Zudem stelle sich die Mandatsfrage: Wer entscheidet darüber, dass ein Kind mit Behinderung nicht die Klasse einer Regelschule besuchen darf?

Kübra Gümüşay stellte außerdem zur Diskussion, welchen Zweck Bildung generell erfüllen solle: „Für mich sollte Schule ein Ort sein, an dem Neugier genährt und nicht nur Fakten vermittelt werden. Wir lernen nicht nur, um Arbeitskräfte zu sein, sondern eigentlich sollten wir lernen, um die Welt und uns selbst besser zu verstehen.“ Raul Krauthausen appelierte: „Wenn man gute Bildungspolitik machen will, muss man investieren. Eine solche Investition zahlt sich leider nicht binnen einer Legislaturperiode aus. Deshalb kann man in Deutschland mit Bildungspolitik derzeit leider keinen Blumentopf gewinnen.“
    
Hintergrund:
Das Projekt „Mensch in Bewegung“ der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Technischen Hochschule Ingolstadt wird im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Eines der Ziele ist es, einen Beitrag zur Stärkung des ehrenamtlichen Engagements in Universität und Region zu leisten.