Inklusives Leben und Lernen in der Schule: Auf dem Weg zu einem Unterricht für alle

Im Dezember 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen ihre Behindertenrechtskonvention, die auch von Deutschland ratifiziert wurde. Wie sich die Konvention speziell im Umfeld von Schulen mit Leben erfüllen lässt, untersucht derzeit an der KU das Verbundprojekt „Inklusives Leben und Lernen in der Schule“, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus sechs Fakultäten der KU beteiligt sind. Einige der Teilprojekte fokussieren auf Herausforderungen bestimmter Unterrichtsfächer bzw. auf die Selbstwahrnehmung von Schülern und Lehrkräften, andere befassen sich mit normativen Fragen, wie etwa dem Thema Bildungsgerechtigkeit.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Weltgemeinschaft im Umgang mit behinderten Menschen vor zehn Jahren ein fundamentales Umdenken angestoßen: Unter dem Stichwort „Inklusion“ wird die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht als freiwillige Fürsorge, sondern als Menschenrecht niedergelegt. Speziell für den Bildungsbereich legt Artikel 24 der Konvention den Besuch von Regelschulen auch für behinderte Menschen als Normalfall fest. Dazu sollen die Vertragsstaaten – darunter auch Deutschland – sicherstellen, dass „Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“. In der praktischen Umsetzung bringt diese Vorgabe eine grundlegende Herausforderung mit sich: „In der Regelschule darf Inklusion nicht gleichzeitig das Recht auf Bildung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen, die zum Beispiel aus anderen Kulturkreisen oder so genannten bildungsfernen Schichten stammen. Gleiches gilt für die besonders begabte Schülerinnen und Schüler“, erklärt die Leiterin des Verbundprojektes, Prof. Dr. Waltraud Schreiber (Professur für Theorie und Didaktik der Geschichte an der KU).

Neben der generellen Auseinandersetzung mit Inklusion gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Verbundprojektes in über zehn Teilprojekten fachspezifischen Fragen nach. Eine der Studien untersucht, wie speziell Schülerinnen und Schüler in der Grundschule Inklusion erleben. Videomitschnitte von Unterrichtssequenzen aus verschiedenen Schulen sind dabei Grundlage für Einzel- und Gruppengespräche mit Schülerinnen und Schülern. Wie sich Bildung in inklusiven Klassen so gestalten lässt, dass alle Beteiligten interagieren können und welche Kriterien sich für die Qualität von Teilhabe am Unterricht entwickeln lassen, untersucht ein weiteres Vorhaben. Gemeinsam mit der Rummelsberger-Diakonie richtet eine andere Untersuchung das Augenmerk auf den Übergang von der Schule in den Beruf. Gerade Jugendliche mit kognitivem und sprachlichem Förderbedarf sind sich zwar besonders ihrer Kompetenzdefizite bewusst, jedoch weniger ihrer Interessen, Ressourcen und Begabungen. Ziel dieses Teilprojektes ist ein Instrumentarium, das bei der Berufswahl unterstützt.

Qualitätskriterien inklusiven Unterrichts untersuchen die Forscherinnen und Forscher für die Fächer Englisch, Geographie, Geschichte, Musik. Die Studien zum Englisch- und Musikunterricht sind empirisch angelegt und erfolgen über Lehrerbefragungen. Auf außerschulische Lernorte bezogen setzt sich Geographie mit „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ als Thema gemeinsamen Lernens auseinander und untersucht das Angebot von Umweltstationen. Für den Geschichtsunterricht klären zwei theoretisch ansetzende Studien, unter welche Bedingungen gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand möglich ist. Das Ziel ist jeweils, die Schüler auf dem Weg über die Beschäftigung mit vergangenen Erfahrungen zu gesellschaftlich-kultureller Teilhabe in ihrer eigenen Lebenswelt zu befähigen. Über die Entwicklung multimedialer Module, denen sich ein weiteres Projekt widmet, sollen außerdem neue Ansätze für gemeinsames Lernen erprobt werden. Eine bereits abgeschlossene Studie erforschte den Einfluss von Schularchitektur und Raumgestaltung auf die Qualität von inklusivem Unterricht an bundesweit 15 Schulen.

Ob Inklusion ein Ausdruck von Bildungsgerechtigkeit ist, ergründet ein bildungsphilosophisches Projekt, das normative Leitprinzipien entwickeln will. Den Weg von der Theorie, über die Pragmatik zur Empirie hat sich ein religionspädagogisch ansetzendes Projekt vorgenommen, welches Spiritualität als Ansatz für inklusives Leben und Lernen untersucht.

Der Eichstätter Forschungsverbund ist mehr als die Summe der Teilprojekte und die gemeinsame Arbeit an grundlegenden Fragen von Inklusion. „Er versteht sich auch als Experimentierfeld für interdisziplinäre Zusammenarbeit“, erklärt Schreiber. Ausdruck davon sei beispielsweise kollegiales Coaching ebenso wie die Beratung durch anerkannte Forscher aus nationalen und internationalen Kontexten der Inklusionsforschung als „critical friends“.

 

Drei Fragen zu Inklusion und Bildung

Wie definieren Sie den Begriff "Inklusion" bezogen auf das Verbundprojekt?
Wir sind auf dem Weg zu einer gemeinsamen Definition und bilden damit im Verbund ab, was im gesellschaftlichen Diskurs insgesamt gilt. Inklusion ist als Prozess und als Ziel gleichermaßen anzusprechen. Wie die "Inklusive Gesellschaft" der Zukunft aussehen wird, können auch wir nicht festlegen. Es ist ein gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten, diese gemeinsam zu entwerfen und zu realisieren. Unser Verbund beschränkt sich nicht auf eine Perspektive der Aufhebung von körperlicher, seelischer oder kognitiver Behinderung durch die Ermöglichung echter aktiver Teilnahme. Inklusion hat die gleichverteilten und allen zugänglichen Chancen auf aktive Beteiligung und Mitgestaltung zum Ziel zu haben.

Vor zehn Jahren wurde die UN-Menschenrechtskonvention verabschiedet. Wie weit fortgeschritten ist seitdem die gleichberechtigte Teilhabe im Bildungsbereich?
Grundsätzlich sind zwei Trends gleichzeitig zu beobachten, die sich nur scheinbar widersprechen. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung steigt sie Anzahl von Kindern mit Förderbedarf in der Regelschule, d.h. die Quote von inkludierten Schülerinnen und Schülern steigt im Vergleich zu solchen ohne Förderbedarf. Aber auch die Anzahl definierter Förderbedarfsfälle steigt und deshalb ist die Exklusionsquote für alle Kinder mit Förderbedarf nicht in gleichem Maß verringert worden. (Bertelsmann-Studie, Inklusion in Deutschland , 2015) Es ist aber offensichtlich, dass das Thema und die Aufgabe der Inklusion in den Schulen angekommen ist und an vielen Stellen mit Nachdruck behandelt wird. Es gibt freilich noch ein deutliches Gefälle vom Kindergarten über die Grundschule bis zur weiterführenden Schule und gar an der Hochschule.

Welche Faktoren speziell im Bildungsbereich sind ausschlaggebend für Fortschritte hin zu mehr Inklusion?
Der Verbund orientiert sich an einem Modell der Transformation und Entwicklung zur Inklusiven Gesellschaft, das diese Faktoren in vier Dimensionen ordnet. Dies sind "Raum", "Beteiligung", "Werte", "Vielfalt". Aus ihnen bildet sich die Trias von Inklusiven Strukturen, Inklusiven Praktiken, Inklusiven Kulturen die sich im Inklusions-Diskurs etabliert haben. Die einzelnen Teilprojekte de Verbundes fokussieren diese Dimension unterschiedlich und finden sich - entsprechend dem ganzheitlichen Charakter des Aufgabe - immer wieder im Gesamtmodell verortet.

 

Die Fragen beantwortete Prof. Dr. Ulrich Bartosch (Professur für Pädagogik an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU) als Mitglied des Verbundprojektes.

 

 

 

 Interview: Constantin Schulte Strathaus

 

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