Kirche am Nullpunkt: Abbruch der Tradition oder Aufbruch zu Neuem?

Ist die Kirche an einem „Nullpunkt“ angelangt? Und wenn ja, was bedeutet das für die Zukunft der Institution, aber auch für das Glaubensleben der Menschen? Ein eintägiges Symposium an der KU hat den Begriff des Nullpunkts, seine Deutungen sowie Perspektiven für die Kirche in den Blick genommen. Veranstaltet wurde die Tagung vom Zentrum „Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel“ (ZRKG), das damit ein von ihm bearbeitetes Kernthema – die Transformation von Kirche und Gesellschaft – in den Fokus rückte.

„Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt“, schrieb der Alfred Delp (1907-1945) in einem auch aus heutiger Perspektive weitsichtigen Text über „Das Schicksal der Kirchen“, den er während seiner Inhaftierung im NS-Gefängnis verfasste – wenig später wurde Delp hingerichtet. Der Jesuit analysierte in seinem Text prägnant und schonungslos die Situation der Kirche und rief dazu auf, die Kirche solle wieder verstärkt ihren diakonalen Auftrag, den Dienst am Menschen, in den Blick nehmen.

Auf Alfred Delp bezog sich Kardinal Reinhard Marx, als er im Juni 2021 – in Anbetracht des Missbrauchsskandals – in einem Brief an Papst Franziskus seinen Rücktritt als Erzbischof von München Freising anbot und davon sprach, die katholische Kirche sei „an einem gewissen toten Punkt“ angelangt. Seither wurde dieser Satz in der Diskussion um den derzeitigen Zustand der Kirche oft zitiert. Die Aussage vom „toten Punkt“, erläuterte Marx später, sei „nicht eine Klage darüber, dass das das Ende ist“. Vielmehr könne ein Wendepunkt erreicht werden, „wenn man den toten Punkt gesehen und anerkannt hat“, so der Kardinal.

Katharina Karl
Prof. Dr. Katharina Karl (Tagungsfotos: Christian Klenk)

Mit Blick auf Ursachen und Folgen der Kirchenkrise, hohe Austrittszahlen und eine Erosion des Glaubenslebens haben andere auch von einem „Nullpunkt“ gesprochen. Dieser Nullpunkt lasse sich in zweifachem Sinne interpretieren, sagte Pastoraltheologin Prof. Dr. Katharina Karl zu Beginn des Symposiums an der KU: Die Krise, in der die Kirche stecke, könne einen Abbruch bedeuten – aber auch den Ausgangspunkt für einen Neuaufbruch. Toter Punkt oder Wendepunkt? – damit war die zentrale Fragestellung des Symposiums formuliert. Vertrautes, aber auch Überholtes breche weg, und es sei noch nicht absehbar, ob und was Neues erwachse, so Karl. Die Polarisierungen innerhalb der Kirche führten die Erschütterungen schmerzlich vor Augen. Es sei eine Illusion zu glauben, man könne den Nullpunkt einfach überspringen.

Sabine Bieberstein
Prof. Dr. Sabine Bieberstein (KU)

Verschiedene Fachrichtungen der Theologie spürten im Verlauf des Symposiums dem Begriff vom Nullpunkt nach, suchten nach biblischen und kirchengeschichtlichen Vergleichen und diskutierten das „Transformationspotenzial der aktuellen Situation“ (ZRKG-Direktor Prof. Dr. Martin Kirschner). Den zeitlich weitesten Schritt zurück ging Exegetin Prof. Dr. Sabine Bieberstein, die auf Beispiele einer Nullpunkt-Erfahrung im Alten und im Neuen Testament rekurierte. Das Volk Israel habe nicht nur einmal am existenzbedrohenden Nullpunkt gestanden, sagte Bieberstein und nannte exemplarisch  das babylonische Exil im sechsten Jahrhundert vor Christus oder die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus.

Der Karfreitag sei der Nullpunkt schlechthin. Christi Tod am Kreuz hätte auch das Ende der Jesus-Bewegung sein können, hätte es nicht Menschen gegeben, die das Reich-Gottes-Projekt weitertrugen. „Jesus verstand seinen Auftrag nicht exklusiv, sondern ließ andere partizipieren“, so Bieberstein. Dies sei eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen, dass es nach dem Nullpunkt des Todes Jesu weitergehen und die Kirche überhaupt entstehen konnte. Bieberstein betonte, vor allem Frauen hätten „in der brüchigen Übergangszeit zwischen Karfreitag und Ostern“ die Initiative ergriffen und Verantwortung übernommen: am Kreuz, bei der Bestattung Jesu und am leeren Grab. Auch die Rolle der glaubwürdigen Gemeinde in der frühkirchlichen Entwicklung hob Bieberstein hervor.

Bernward Schmidt
Prof. Dr. Bernward Schmidt (KU)

Prof. Dr. Bernward Schmidt, Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, lenkte den Blick auf verschiedene Nullpunkte nicht nur in der Kirchengeschichte. Die Stunde Null im Jahre 1945 sei nicht nur mit dem Zusammenbruch der Naziherrschaft verknüpft, sondern auch mit dem Aufbau der Nachkriegsordnung. „Schrecken und Verlockung des Nullpunkts“, hatte denn auch der Dekan der Theologischen Fakultät seinen Tagungsbeitrag überschrieben. Nullpunkt sei, so bekannte Schmidt, für ihn ein schwieriger Begriff, denn „das Nichts ist nichts für mich als Historiker“.

Vor allem richtete Schmidt den Blick auf die Zeit der Säkularisation, die für die Kirche in vielerlei Hinsicht einen Abbruch der Tradition bedeutete: Das religiöse Fundament des Politischen wurde plötzlich in Frage gestellt, Kirchenvertreter waren nicht länger Teil der politischen Herrschaft, auch hatten die gesellschaftlichen Umbrüche erhebliche Folgen für die materielle Situation der Kirche und der Orden. In Folge des Einschnitts hätten sich zwei gegensätzliche Strömungen herausgebildet: ein liberal-aufklärischer Reformkatholizismus auf der einen und – als Abwehrreaktion – eine Betonung des konservativ-ultramontanen Katholizismus auf der anderen Seite. Schmidt zog Parallelen zur aktuellen Situation der Kirche und den erheblichen Polarisierungen in der Debatte um die Zukunft der Kirche. Und er merkte mit Blick auf den Synodalen Weg an: „Wer reformieren will, muss dort ansetzen, wo religiöses Alltagsleben stattfindet – nämlich in den Gemeinden.“ Als reines „Projekt der Elite“ habe das Reformprojekt Akzeptanzprobleme, so Schmidt.

Martin Kirschner
Prof. Dr. Martin Kirschner (KU)

Einen „Kirchenkrise-Überdruss“ konstatierte Prof. Dr. Martin Kirschner, Inhaber des Lehrstuhls für Theologie in Transformation, angesichts der Vielzahl schwerwiegender Probleme der Institution. Am Nullpunkt angelangt sei es unklar, in welche Richtung die Entwicklung gehe: „Hat die Kirche die Kraft zu Umkehr und Erneuerung? Oder wird es die Kirche zerreißen?“ Der Riß durch die Institution sei durch Lagerbildung und gegenseitige Schuldzuweisungen schon gegeben. Bei einer pessimistischen Sichtweise wollte Kirschner jedoch nicht stehen bleiben und lenkte, Bezug nehmend auf eine „Karsamstagsspiritualität als Entkrampfung kirchlicher Trasformationskonflikte“ (so auch sein Vortragstitel), auf den Aufbruch zu Neuem. Der Nullpunkt könne auch als Zentrum des Koordinatensystems betrachtet werden, von dem aus Maß genommen werde. Wichtig sei es dabei, Ohnmachtserfahrungen und Kontrollverlust zuzulassen.

Martin Schneider
Prof. Dr. Martin Schneider (KU)

Dies war gleichsam das Stichwort für Prof. Dr. Martin Schneider, der seine Expertise aus der Resilienzforschung in die Debatte einbrachte. Der Moraltheologe an der Fakultät für Religionspädagogik der KU sprach über die Bewältigung von Krisen und zeigte auf, wie sich die Erkenntnisse in diesem Bereich auf die gegenwärtige Situation der Kirche übertragen lässt. Um neu anzufangen, müsse zuerst mit etwas aufgehört werden, betonte Schneider und nannte exemplarisch die Ausgrenzung Homosexueller oder Machtstrukturen in der Kirche. Das Aufhören sei mitunter ein schmerzhafter und von Trauerarbeit begleiteter Prozess. Auch in dieser Hinsicht erlebten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Synodalen Weges diesen auch „als Therapieveranstaltung“.

Dr. Christian Kern
Dr. Christian Kern (TU Dresden)

Auch Dr. Christian Kern, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dresden, plädierte in seinem Beitrag dafür, „dem Scheitern Raum zu geben, dann können wir einer ursprünglicheren Form des Evangeliums eine Chance geben“. In den Taten des Missbrauchs, aber auch in deren Vertuschung erlebe die Kirche "Nullpunkte des Glaubens". Kirche in ihrer neuzeitlichen Souveränitätsgestalt komme in der aktuellen Aufarbeitung an ihre Grenze und scheitere. Kern sieht darin aber gerade eine Chance: Wenn man diesem Scheitern Raum gebe, eröffneten sich Möglichkeiten, eine evangeliengemäße Form von Kirche wiederzuentdecken, als „Aufbruch in einen offenen, pluralen, auch heterogenen Raum“ des Glaubens.

Dr. Dirk Gärtner
Dr. Dirk Gärtner (Universität Regensburg)

Dr. Dirk Gärtner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Regensburg, richtete den Blick auf seine Erfahrungen als Regens des Priesterseminars in Fulda, indem er offen das Scheitern des bisherigen Modells der Priesterausbildung ansprach. Bei den Neukandidaten für das Priesteramt sei inzwischen die „Null-Linie“ nahezu erreicht – nach einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung. „Vielleicht müssen wir das Priesterseminar abschaffen, um das zu retten, was zur Priesterausbildung gehört“, formulierte Gärtner in einer zugespitzten These, gab aber sogleich zu bedenken, dass sich die Ausbildung in den Seminaren in den meisten Fällen nicht mehr in streng linearen Bahnen vollziehe, wie das oft von außen angenommen werde. Viele Kandidaten für das Priesteramt hätten etwa schon Vorerfahrungen des Scheiterns gemacht, weil sie eine gescheiterte Berufsbiografie mitbrächten. Die Ausbildung gehe inzwischen sehr stark auf die individuelle Persönlichkeit ein, was auch unbedingt notwendig sei. Ziel dürfe es nicht sein, allein normative Vorgaben zu erfüllen, sondern das Seminar müsse gestandene Persönlichkeiten hervorbringen.

In die abschließende Diskussion brachten sich auch Studierende aus Theologie, Religionspädagogik und dem Lehramt für Religion ein, die auf Reformbedarfe in der Kirche verwiesen – und auf pastorale Felder, in denen die Kirche weiter anschlussfähig sei, aber zu wenig in Erscheinung trete. Deutlich wurde in der Diskussion auch, wie sehr die Polarisierungen in der Debatte um den Weg der Kirche die Studierenden belasten.

Alfred Delp schrieb 1945 in seinem Beitrag: „Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben.“