Kirchliches Arbeitsrecht muss Lebensrealitäten der Beschäftigten ernstnehmen

Bislang war das kirchliche Arbeitsrecht eher ein Insider-Thema, das seit über 20 Jahren Hunderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer bundesweiten Fachtagung an die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt zieht (KU). Doch in diesem Jahr dominierte die Veranstaltung eine Diskussion, die etwa durch den Synodalen Weg oder die Initiative OutInChurch auch in der breiten Öffentlichkeit geführt wird: Wie geht die katholische Kirche mit der sexuellen Orientierung und dem Familienstand ihrer Angestellten um im Hinblick auf geforderte Loyalitätspflichten? Der vor geraumer Zeit festgelegte Titel „Wie solidarisch ist das kirchliche Arbeitsrecht?“ gewann damit eine besondere Bedeutung. Die pandemiebedingt rein digitale Veranstaltung besuchten am Montag dennoch über 300 Vertreterinnen und Vertreter von Dienstgeber- und Dienstnehmerseite der beiden großen Kirchen. Für die Veranstaltung kooperieren die Ruhr-Universität-Bochum, die Fakultät für Soziale Arbeit der KU sowie die Fachzeitschrift „Die Mitarbeitervertretung“.

Prof. Dr. Thomas Beyer, Professor für Recht an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU, wies in seiner Begrüßung auf die „gesellschaftlichen Erwartungen“ hin, die an das kirchliche Arbeitsrecht gestellt würden. „Ein gelingender Ausgleich zwischen Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht der kirchlichen Gemeinschaften sowie den grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen der Persönlichkeitsrechte der Mitarbeitenden sind nicht nur wissenschaftlich spannend und anspruchsvoll.“ Für die Praxis entwickele sich die Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechtes gerade im sozialen Sektor angesichts der Lage am Arbeitsmarkt zu einer „Überlebensfrage“, um Mitarbeitende zu gewinnen.

Als katholische Theologin und Professorin für Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an Universität Freiburg schilderte Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer in ihrem Grundsatzvortrag anhand des Gemeinwohlatlasses, dass die Kirche und ihre sozialen Einrichtungen nicht mehr als Einheit wahrgenommen werden. Der Gemeinwohlatlas bildet den wahrgenommenen Beitrag von Unternehmen und Institutionen zum Gemeinwohl ab. Während sich die Diakonie und die Caritas in dieser 137 Institutionen umfassenden Liste auf den Plätzen 10 bzw. 14 fänden, rangiere die Evangelische Kirche in Deutschland auf dem 18., die katholische Kirche gar auf Platz101.

Die Initiative OutinChurch stehe für schon lange schwelende Fragen der Loyalitätsobliegenheiten im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrechts und den Umgang der Kirche mit Geschiedenen, Wiederverheirateten und eingetragenen Lebenspartnerschaften. „Das fehlende Wahr- und Ernstnehmen der unterschiedlichen Lebensrealitäten von Beschäftigten, das vorrangige Messen der Menschen an ihren vermeintlichen Unzulänglichen anstatt an ihren Kompetenzen stößt auf Unverständnis. Nicht nur in der säkularisierten Gesellschaft, sondern auch in den betroffenen kirchlichen Kreisen“, so Nothelle-Wildfeuer. Das dramatische Leid und die große Ungerechtigkeit in Biographien, die durch OutinChurch offengelegt worden seien, mache deutlich, in welcher Diskrepanz die kirchliche Grundordnung und Loyalitätsobliegenheiten zu ethischen und rechtlichen Grundlagen unserer Gesellschaft, aber auch zur Botschaft des Evangelium und der christlichen Soziallehre stehe.

Das kirchliche Arbeitsrecht wirke wie eine Kontrastfolie, vor der sich Kirche nicht mehr als attraktiver Arbeitnehmer etablieren könne: „Wer möchte schon gerne eine Stelle bei einer Institution annehmen, die im Ruf steht, eine furchteinflößende und diskriminierende Unternehmenskultur zu haben, die fernab all der Standards liegt, die als arbeitsweltbezogene Errungenschaften unserer Gesellschaft gelten?“

Das Beiseiteschieben solcher Diskussionen würde auf ein Kirchenverständnis des „Heiligen Restes“ hinauslaufen, der sich bewusst in eine Nische zurückzieht, um die Zeiten zu überstehen. Mit dem Zweiten Vatikanum sei die Welt jedoch nicht als „Ort des Bösen“, sondern als Raum beschrieben worden, in dem Kirche mitgestaltend unterwegs ist. „Kirche muss gesellschaftliche Voraussetzungen erkennen, sich ihnen stellen und konstruktiv in die Theologie, das kirchliche Handeln und die Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts zu integrieren“, forderte die Theologin. Die Botschaft des Evangeliums solle ja gerade für die und in der Welt von heute erkannt und ausgelebt werden. Die Forderung nach einer Änderung von Loyalitätsüberlegungen sei somit keine kirchliche Bankrott-Erklärung, sondern habe eine genuin theologische Überlegung als Grundlage. Es gelte die „Zeichen der Zeit“ als Erkenntnisquelle in das theologische Argumentieren zu integrieren und zum Ausgangspunkt für die Reform des kirchlichen Arbeitsrechts zu machen.

Konkret könne die Kirche von der Kirchlichen Soziallehre lernen, die sie selbst in die Gesellschaft hineingetragen habe. Denn die Soziallehre sei ja gerade aus der Sorge für menschenwürdige und gerechte Arbeitsbedingungen für alle entstanden. „Sie betrachtet den Menschen als Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft – und man kann erweitern – aller gesellschaftlichen Prozesse.“ Wenn Kirche es als ihre zentrale Verpflichtung verstehe, in allen anstehenden gesellschaftlichen Fragen die Orientierung an der Würde des Menschen einzufordern und personale Freiheit als zentralen Wert ansehe, dann müsse genau das auch für die eigene Sozialgestalt der Kirche gelten. Nicht mehr das Privatleben der Beschäftigten soll im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage nach Können und Professionalität, um die Institution zu tragen. Vorrangig sei die Partizipation aller mit ihren Kompetenzen an dem Bemühen um die Realisierung der Hoffnung spendenden Botschaft des menschenfreundlichen Gottes. Nothelle-Wildfeuer appellierte: „Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren, wenn die Kirche nicht ihre Glaubwürdigkeit und damit die Menschen verlieren will!“

Neben diesem und einem weiteren Plenumsvortrag zu Fragen von betrieblicher Mitbestimmung informierten sich die Teilnehmenden im Rahmen der Fachtagung außerdem in mehreren Vertiefungsgruppen unter anderem zu aktuellen Urteilen der evangelischen und katholischen Gerichtsbarkeit sowie die Einbindung von Mitarbeitervertretungen zu Fragen von Digitalisierung in den jeweiligen Einrichtungen. Die 25. bundesweite Tagung zum Kirchlichen Arbeitsrecht im kommenden Jahr ist für den 6. und 7. März als Präsenzveranstaltung in Eichstätt geplant.