Lebensmittel-Logistik in Zeiten der Corona-Pandemie

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Während andere Branchen aktuell Kurzarbeit beantragen müssen, haben der Lebensmittelhandel und die damit verbundene Logistik derzeit einen Mehrbedarf an Arbeitskräften. Ein Gespräch über Versorgungssicherheit und den respektvollen Umgang im Supermarkt mit dem Logistik-Professor Dr. Heinrich Kuhn.

Herr Professor Kuhn, Sie haben vor kurzem zusammen mit Prof. Dr. Andreas Holzapfel von der Hochschule Geisenheim University eine Studie veröffentlicht, die sich mit den besonderen Herausforderungen von Oster- und Weihnachtsfeiertagen für die Lebensmittel-Logistik beschäftigt. Ist die Branche auch gerüstet für eine Versorgung der Bevölkerung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie?

Ja gewiss, die Versorgung ist gewährleistet. Es benötigt halt eben etwas Zeit, bis die Regale wieder gefüllt sind. Mit dieser zusätzlichen Nachfrage, die auch nur ganz bestimmte Warengruppen und Preissegmente betrifft, z.B. Hartweizenprodukte, Konserven, Hygieneartikel, konnte der Handel vorab nicht rechnen. Das unterscheidet die aktuelle Situation vom Feiertagsgeschäft (Weihnachten und Ostern). Hier hat der Handel Erfahrungen aus der Vergangenheit und bereitet sich ganz gezielt vor.

Die logistischen Prozesse sind sehr fein abgestimmt und einjustiert, um den Kunden (bei Normalnachfrage) die vielen unterschiedlichen Produkte (ca. 50.000 unterschiedliche Produkte in einem normalen Lebensmittelsupermarkt) mit hoher Verfügbarkeit und vor allem zu akzeptablen Preisen anbieten zu können. Wenn nun derartig kurzfristige und in der Höhe extreme Nachfragespitzen auftreten, dann dauert es halt eben eine gewisse Zeit, bis diese Produkte vom Lieferanten, über die Zentral- oder Regionallager an die Märkte wieder ausgeliefert werden. Ein Warenverteilzentrum eines Lebensmittelhändlers (Edeka, REWE, Kaufland, Real, dm-drogerie markt etc.) hat auch nur eine gewisse Tageskapazität zur Kommissionierung und zur Ein- und Auslagerung sowie zum Transport der Produkte zur Verfügung. Wenn jetzt mehr nachgefragt wird, müssen sich die Nachfüllaufträge der Märkte in die Warteschlange wie Skifahrer am Ski-Lift einreihen und es benötigt halt etwas Geduld. Die Produkte sind aber verfügbar, entweder beim Lieferanten oder sie liegen bereits im Verteilzentrum des Handels. Also keine Sorge, der Nachschub wird klappen.

Vor welchen besonderen Herausforderungen steht die Lebensmittel-Logistik aktuell? Welche Anstrengungen erfolgen gerade hinter den Kulissen?

Zum einen müssen die sehr stark nachgefragten Produkte fair auf die einzelnen Märkte aufgeteilt werden, so dass alle Regionen und Märkte gleichermaßen berücksichtigt werden. Es darf nicht dazu kommen, dass einzelne Märkte über Wochen keine Hartweizenprodukte und/oder Hygieneartikel erhalten, andere aber überversorgt werden.

Generell sind die Zentral- und Regionallager des Handels ganz wichtige Knotenpunkte im Warenfluss zu den Märkten und müssen deshalb unbedingt arbeitsfähig gehalten werden. D.h. es bestehen extrem hohe Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen in den Verteilzentren. Ausfallszenarien von Mitarbeitern durch Krankheit oder ganzer Verteilzentren sollten simuliert werden. Es sollte also im Rahmen der Pandemiepläne die Frage geklärt werden, welches Verteilzentrum im Notfall durch welches andere Verteilzentrum ersetzt werden kann.

Waren werden teils am Sonntag an die Märkte ausgefahren, jedoch ist das nicht bei allen Märkten möglich, da zur Warenannahme auch die Mitarbeiter in den Märkten verfügbar sein müssen, was sich ggf. bei zunehmender Ausbreitung der Pandemie in Deutschland schwieriger darstellt. Während andere Branchen Kurzarbeit beantragen, hat der Lebensmittelhandel kurzfristigen Mehrbedarf an Mitarbeitern. Aber hier finden bereits Abstimmungen, ggf. Vorberatungen zur befristeten Übernahme/Ausleihe von Logistikmitarbeitern aus anderen Branchen statt.

Hinzu kommt, dass Prognosen dazu erstellt werden müssen, welche Warengruppen oder Produkte zu Hause tatsächlich mehr konsumiert und welche Warengruppen oder Produkte zu Hause hauptsächlich deponiert, aber nicht konsumiert werden. Hier hat man aktuell noch keine Erfahrungswerte. Das Schließen der Restaurants am Abend, führt jedoch definitiv zu einem erhöhten Zu-Hause-Konsum.

Panik-Käufen und Übergriffen von ungeduldigen Kunden in Märkten muss adäquat begegnet werden, ohne dass die geduldigen und verständnisvollen Kunden im ihrem Kaufprozess beeinträchtigt werden. Hier werden die Mitarbeiter in den Märkten zusätzlich gefordert.

Sind leere Regale ein Hinweis auf Mangel?

Leere Regale sind in der aktuellen Situation meist kein Hinweis auf einen längerfristigen Produktmangel, sondern eher auf einen akuten, kurzfristigen Kapazitätsmangel in Produktion und Logistik. Es benötigt eine gewisse Zeit, bis die Regale wieder gefüllt werden können. Manche Filialen werden auch nur einmal pro Woche beliefert. Wenn aber bei einem Produkt die Tagesnachfrage die ansonsten übliche Nachfrage von zwei Wochen erreicht, dann ist das Regal halt eben u.U. nur einen halben Tag gefüllt und dann an den weiteren fünf Verkaufstagen leer.

Müssen sich die Menschen dennoch auf Engpässe einrichten?

Mangel wird es im Lebensmittelbereich ggf. nur bei einigen wenigen Produkten geben, die aber in der Regel durch andere Produkte ersetzt (substituiert) werden können. Selbst bei kritischen Warengruppen wie Desinfektionsmitteln rechne ich mittelfristig mit Entspannung. Es bestehen keine besonderen Gründe, sich mit Mengen zu bevorraten, die über einem normalen Vorrat liegen, den man ohnehin immer zuhause haben sollte.

Wie sollten wir uns als Kunden in dieser Sondersituation verhalten?

Wesentlich erscheint mir in dieser angespannten Situation anzuerkennen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Lebensmittelhandel und Drogerien zurzeit eine wesentliche Versorgungsleistung für uns alle leisten – und dies im internationalen Vergleich mit sehr effizienten Logistiksystemen. Mit dieser Kenntnis besteht kein Grund zu Hamsterkäufen, selbst wenn kurzzeitig kein Toilettenpapier verfügbar ist. Ein respektvoller Umgang im Supermarkt beinhaltet sicherlich auch, notwendige Distanz zu Verkäufern und anderen Kunden zu halten und im Idealfall auch mit Karte zu bezahlen, um Bargeldaustausch zu minimieren.

Interview: Constantin Schulte Strathaus

 

Weitere Information unter www.lebensmittellogistik.org