Lehren aus der Pandemie für mehr Nachhaltigkeit

Im Rahmen des Corona-Forums spricht Prof. Dr. Anne-Kathrin Lindau (Professorin für Geographiedidaktik und Bildung für nachhaltige Entwicklung an der KU) über das Verhältnis des Menschen zur Natur sowie Lehren, die sich aus der Pandemie für den Umgang mit Fragen von nachhaltiger Entwicklung ziehen lassen. Das Forum ist ein gemeinsames Projekt von Donaukurier und KU, um Fragen aus der Bevölkerung zu thematisieren.

 

Frau Lindau, während des Lockdown waren viele Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens stark eingeschränkt. Trägt dies dazu bei, den Klimawandel zu verlangsamen?

Anne-Kathrin Lindau: Bereiche wie industrielle Produktion, Mobilität und Transport waren zeitweise sehr stark eingeschränkt. Wer in der Nähe eines Flughafens lebt, konnte unmittelbar erleben, wie stark der Flugverkehr zurückgegangen ist. Vielleicht kann uns dadurch bewusstwerden, dass wir künftig mit weniger Reisen auskommen können. Ob diese Veränderungen aber auf Dauer einen positiven Effekt für das Klima haben, lässt sich kaum seriös vorhersagen. Wir befinden uns erst seit vier Monaten in der Pandemie. Das ist ein sehr kurzer Zeitraum. Und wir wissen nicht, ob wir im kommenden Jahr nicht schon wieder in den alten Strukturen leben werden.

Können wir aus der Pandemie etwas für eine nachhaltige Entwicklung lernen?

Lindau: Bemerkenswert war, dass der Klimawandel zuletzt in vielen Talkshows diskutiert wurde. Oft war zu hören: Die Pandemie habe gezeigt, wie schnell Politik handeln könne, wenn der Druck nur groß genug sei. Zugleich war es angesichts der sehr realen Bedrohung durch das Virus eine enorme Herausforderung, zwischen wissenschaftlichen Empfehlungen und den Forderungen aus der Wirtschaft abzuwägen. Wie sich gezeigt hat, waren die in Deutschland getroffenen Maßnahmen sehr erfolgreich. Es war richtig, den wissenschaftlichen Empfehlungen zu folgen. Es wäre daher ein wirklicher Fortschritt, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse auch in der Klimadebatte stärker in politische Entscheidungen eingehen würden.

Weshalb sind gesellschaftliche Veränderungen denn so schwer umzusetzen. Liegt es daran, dass uns die Folgen des Klimawandels scheinbar nicht direkt betreffen?

Lindau: Ja, wir leben in einer relativ privilegierten Region. Bisher beeinträchtigen die Klimaveränderungen unsere Lebensweise kaum. Inzwischen wird der Klimawandel jedoch in einigen Gebieten Deutschlands spürbar, zum Beispiel in den Wäldern des Mitteldeutschen Trockengebietes oder im Agrarsektor. Klar ist daher, dass sich unsere Gesellschaft verändern muss. Zwar können wir uns gegenwärtig schwer vorzustellen, wie unsere Umwelt in 30 oder 50 Jahren aussehen wird. Vielleicht hilft es aber, sich zu fragen, was die Klimaveränderungen für die eigenen Enkelkinder bedeuten. Es wird entscheidend sein, ob es uns gelingt, den Blick stärker in die Zukunft zu richten.

Häufig war zu hören, die Verbreitung neuer Viren hänge damit zusammen, dass Menschen immer weiter in die Natur vordringen.

Lindau: Es ist schwer zu beurteilen, ob es zu einer Übertragung gekommen ist, da wir immer weiter in die Lebensräume bestimmter Tierarten vordringen. Auch Wildtiermärkte gibt es schon sehr lange. Schon seit Kolonialzeiten im 19. Jahrhundert wird mit seltenen Tieren gehandelt. Die Übertragung eines Virus von einem Tier auf den Menschen muss nicht zwingend damit zusammenhängen.

Müssen wir denn ein anderes Verhältnis zur Natur entwickeln?

Lindau: Ja, unbedingt. Dass wir unsere Umwelt immer intensiver nutzen, hängt auch mit den hohen Bevölkerungszahlen weltweit zusammen. Wir benötigen die natürlichen Ressourcen, um uns ernähren zu können, um Arbeit und Wohnraum zu finden. Das hat Folgen. Es ist aber absolut notwendig, bestimmte Flächen sich selbst zu überlassen, ohne dass der Mensch eingreift. Die Nationalparks in Deutschland haben daher den Slogan entwickelt: „Natur Natur sein lassen“.

Gibt es in Deutschland denn noch unberührte Naturräume?

Lindau: Eine echte Wildnis gibt es in Deutschland nicht mehr. Es handelt sich stets um Flächen, die aus der Nutzung herausgenommen wurden. Letztlich unterliegen Wildnis-Flächen oder Nationalparke aber auch einem Zweck. Sie dienen der Information und der Erholung, weshalb die Natur nicht vollkommen wertfrei betrachtet wird. Mit solchen Naturräumen sind auch Konflikte verbunden: Der Borkenkäfer-Befall der Fichtenbestände oder die erneute Verbreitung des Wolfes wird von Forst- und Landwirten sehr kritisch gesehen. Das wirft die Frage auf: Wie weit ist es überhaupt möglich, die Natur vollkommen wertfrei zu betrachten? Die Kunst wird es sein, sich von der Vorstellung zu lösen, dass die Natur für den Menschen nützlich sein muss.

Gilt das auch für andere Weltregionen? Neuerdings wird ja von einem Zeitalter des „Anthropozän“ gesprochen.

Lindau: Ja. Weltweit gibt es keine unberührte Natur mehr. „Anthropozän“ bedeutet: Wir leben in einem Erdzeitalter, das zutiefst durch den Menschen geprägt ist. Sicher gibt es Orte, an denen noch nie ein Mensch war. Der Einfluss des Menschen ist aber überall zu erkennen. Zum Beispiel durch die weltumschließende Atmosphäre. Emissionen werden durch Luftströmungen auch in entlegene Regionen getragen.

Der Umgang mit der Natur ist aber nicht nur weltweit eine Herausforderung, er betrifft auch die landwirtschaftliche Nutzung der Natur.

Lindau: Ja. Hier muss sich die Politik vollkommen neu ausrichten. Aktuell erleben wir, dass der Druck sehr hoch ist, die Missstände in der Landwirtschaft anzugehen. Die Probleme sind nicht neu. Die Pandemie hat aber gezeigt, dass Veränderungen möglich sind, wenn es um Leib und Leben geht. Ich würde mir daher wünschen, dass wir nicht nur dann zu politischen Entscheidungen kommen, wenn Leben akut auf dem Spiel stehen.

Bedeutet das auch, dass wir unsere Lebensstile verändern müssen?

Lindau: Natürlich spielen die persönlichen Vorlieben von Konsumenten eine Rolle, was wir jedoch brauchen, sind gesunde Strukturen. Es ist wenig sinnvoll, mit dem Zeigefinger vorwurfsvoll auf die Endverbraucher zu zeigen. Menschen, die ein gutes Einkommen haben, können relativ flexibel entscheiden, was und wo sie einkaufen. Wenn sie alleinerziehend sind oder von Hartz IV leben, sind die Handlungsspielräume deutlich geringer. Die Verantwortung darf daher nicht auf die Verbraucher übertragen werden, da diese kaum frei entscheiden können. Nachhaltigkeit hat mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.

Was braucht es stattdessen?

Lindau: Wir brauchen eine ehrliche Kostenkalkulation in der Landwirtschaft. Die Wege von Produktion und Vertrieb sollten überschaubar sein, sodass Verbraucher nachvollziehen können, woher ihre Lebensmittel kommen. Künftige politische Entscheidungen sollten unbedingt auch den Bedarfen der Landwirte gerecht werden, die unter einem extremen Druck stehen. Von einer Biolandwirtschaft lässt sich derzeit nicht gut leben, obwohl genau das der richtige Weg wäre. Dabei muss es uns gelingen, die Ansprüche von Ökonomie und Ökologie in ein Gleichgewicht zu bringen. Das ist herausfordernd, aber genau das muss die Aufgabe einer zukunftsfähigen Politik sein.

Muss eine nachhaltige Entwicklung schon in der Schule beginnen?  

Lindau: Ja. Das Thema Nachhaltigkeit findet zunehmend Eingang in die Lehrpläne der Bundesländer. Aktuell auch in Bayern. Fragen der Nachhaltigkeit müssen daher stärker in die Lehrerausbildung an Universitäten integriert werden. Die Katholische Universität steht bereits sehr gut da. Seit zehn Jahren verfügt die Universität über ein breites Nachhaltigkeitskonzept, das künftig natürlich weiter umgesetzt und fortentwickelt werden muss.

Wie kann Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) denn gelingen?

Lindau: In den Schulen wird BNE sehr stark über Zielkonflikte und „Dilemma“-Situationen vermittelt, also über Situationen und Problemstellungen, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Dabei möchten wir unbedingt vermeiden, Nachhaltigkeit mit einem erhobenen Zeigefinger zu vermitteln. Stattdessen bieten wir Information an, um unterschiedliche Sichtweisen zuzulassen. Ziel ist es ja nicht, dass alle gleich denken. Die Schüler sollen sich selbst ein Werturteil bilden können. Bildung bedeutet: Zu erlernen, wie man Verantwortung übernehmen und selbständig zu ausgewogenen gesellschaftlichen Entscheidungen kommen kann.

Das Gespräch führte Thomas Metten.

Zur Person:
Prof. Dr. Anne-Kathrin Lindau
ist Professorin für Geographiedidaktik und Bildung für nachhaltige Entwicklung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Bildung für nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Standentwicklung. Sie ist außerdem Nachhaltigkeitsbeauftragte der KU.