Lehren und Lernen im Wohnzimmer: Chancen und Herausforderungen von Homeschooling

Seit gut einer Woche gehört es zum Alltag in außergewöhnlichen Zeiten: Während die Eltern im Homeoffice arbeiten teilen sie sich Laptop und PC mit ihren Kindern, die ihre Aufgaben online erhalten. Oder der Unterricht daheim beginnt nach Feierabend, sobald die Eltern von der Arbeit zurückkommen. Homeschooling in Zeiten von Corona ist eine Herausforderung für Schüler, Eltern und Lehrkräfte. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Rainer Wenrich, Vorsitzender des Zentrums für Lehrerbildung an der KU, über die Grundlagen und Perspektiven von Unterricht daheim.

Eltern, Schüler und Lehrkräfte stehen derzeit vor der Herausforderung, den Unterrichtsstoff zu Hause zu bearbeiten. Wie tragfähig ist das, was unter den aktuellen Umständen vermittelt werden kann?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist leider noch nicht absehbar, wie lange unter diesen für alle Beteiligten weitgehend neuen Bedingungen unterrichtet und gelernt werden muss. Wir haben es sicherlich mit einer Ausnahmesituation zu tun. Dennoch agieren Lehrende und auch Schülerinnen und Schüler schon seit geraumer Zeit mithilfe innovativer Lehr- und Lernmethoden, häufig auch mit dem Einsatz von Werkzeugen,  die das analoge mit dem digitalen Lehren und Lernen verbinden. Konkret heißt dies, dass wir schon Erfahrungen sammeln konnten, die jetzt sehr wertvoll sind. Klar ist aber auch, dass bislang überwiegend bestimmte Zeitfenster der digitalen Lehre im Mittelpunkt standen. Nun haben wir in der Tat veränderte Rahmenbedingungen. Das distance teaching und distance learning finden täglich statt. Über die Nachhaltigkeit des Unterrichtens und Lernens unter den gegebenen Umständen lassen sich adhoc nur wenig valide Aussagen treffen. Fest steht aber, dass wir zuhause nicht den regulären Klassenraum spiegeln können. Das wäre weder sinnvoll noch zielführend. Ebenso wenig zielführend ist es, zu versuchen, die analoge Lehre und die digitale Lehre aus der Schule identisch nach Hause zu übersetzen. Bei letzterer handelt es sich um eine völlig andere methodische und didaktische Ebene, deren innere Logik man erfasst haben muss.

 

Welche Nachteile und welche Vorteile hat der Unterricht am Küchentisch?

Nachteile, wenn man sie denn als solche bezeichnen sollte, wären sicherlich in der Tatsache zu sehen, dass es in der heimischen Umgebung mehr Ablenkung als in der Schule geben kann. Wir haben aber in der Zwischenzeit immer mehr Berichte darüber, dass Schüler - je nach Alter und Klassenstufe - und Studierende damit begonnen haben, sich ihren Lernalltag unter den aktuellen Gegebenheiten mit Unterstützung der Lehrenden und auch der Eltern besonders zu strukturieren. Wir wissen auch, dass hierbei besonders kürzere Lerneinheiten sehr viel Sinn machen. Man lernt in der gewohnten Umgebung und zwischendurch gibt es u. U. Phasen der Entspannung  und „Belohnung“ mit einem kleinen Spaziergang, einem Chat mit den Freunden und danach konzentriert man sich wieder auf die vorhandenen Aufgaben und/oder den Lernstoff. Dieses Alternieren zwischen den Arbeits-/Lerneinheiten und den „Belohnungs-"Einheiten ist sehr wichtig und steigert die Nachhaltigkeit. In der Schule nennen wir das „Rhythmisieren“ - allerdings vor allem in Bezug auf die unterschiedlichen Fächer(-gruppen). Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich im Moment um eine besondere Situation handelt, auf die wir nicht vorbereitet waren. Wir müssen also auch geduldig mit uns und den anderen sein. Weder wir Lehrende, noch unsere Schülerinnen und Schüler oder Studierende werden über Nacht zu Profis im online teaching. Vielmehr befinden wir uns inmitten einer Ausnahmesituation der Pandemie und das hat neben den körperlichen auch psychische und  belastende Auswirkungen auf uns alle. In der heimischen, familiären Umgebung sollte daher zwischen den Lerneinheiten auch immer Zeit für Gespräche sein. In dieser Phase ist das ein kostbares Back-Up für die Seele.

 

Wie gut gerüstet ist das Schulsystem für diese Situation?

Wir erleben in Bayern seit vielen Jahren eine kontinuierliche Entwicklung im Bereich des Einsatzes von digitalen Lehr- und Lernmethoden, welche durch begleitende Fortbildungsmaßnahmen und Förderprogramme unterstützt werden. Hinzu kommt, dass die Lehrkräfte mit hoher Motivation, Interesse und Lernbereitschaft über alle Dienstaltersgrenzen immer wieder auch innovative Unterrichtsszenarien entwickeln und dabei analoge und digitale Lehr- und Lernmethoden integrieren, um die unterschiedlichen fachlichen Inhalte aufzubereiten. In Bayern haben wir ein Fortbildungsnetzwerk aus der Fortbildungsakademie in Dillingen und immer mehr Fortbildungsangeboten an den bayerischen Universitäten auf der Ebene der einzelnen Lehrstühle und durch die Expertise der dortigen Lehrerbildungszentren. Somit kommen Lehrkräfte aus ganz Bayern in Kontakt mit den aktuellen, digitalen Lehr- und Lernmethoden. Hinzu kommen auch schulinterne Fortbildungsmaßnahmen, die regelmäßig zur Verfügung stehen. Insgesamt erfolgt die Unterstützung auf schulischer Ebene durch eine digitale Unterrichtsplattform mit dem Namen „mebis“ des Landesmedienzentrums Bayern. Diese Plattform hat in den vergangenen Tagen aufgrund extrem hoher Zugriffsraten einen Stresstest erlebt, aber in der Zwischenzeit läuft sie recht stabil. Es handelt sich um ein hervorragendes Unterstützungsinstrument, dass den Schulen, den Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern nun wertvolle Dienste leistet. Gleichzeitig lassen sich aktuell auch sehr wertvolle Erfahrungen mit diesen Instrumenten machen. Denn klar ist auch, dass sich unsere Bildungslandschaft aufgrund der gegenwärtigen Umstände verändern wird. 


Wo liegen die Chancen und Grenzen für den Einsatz von digitalen Formaten in der aktuellen Situation? 

Natürlich ergeben sich in der aktuellen Situation viele Möglichkeiten digitale Medien einzusetzen, auf vorhandene Erfahrungen zurückzugreifen und auch viele digitale Werkzeuge zu erproben. Wir können auf eine kaum überschaubare Menge an digitalen Werkzeugen und Plattformen zugreifen, viele Anbieter stellen gerade jetzt sehr viel Material auch kostenfrei, zumindest für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung. Dies alles entbindet uns aber nicht von der Pflicht, auszuwählen oder auch auf datenschutzrechtliche Belange zu achten. Auch in der jetzigen Ausnahmesituation ist dies wichtig. Nur so können wir vermeiden, dass wir in ein paar Wochen, wenn sich die Gesamtlage hoffentlich wieder etwas entspannt hat, viel Datenmaterial im Internet haben, das wir nicht wieder „einfangen“ können. Viele Lehrende arbeiten schon seit geraumer Zeit mit digitalen Werkzeugen, haben hier wertvolle Erfahrungen gemacht. Dies gilt auch für die SchülerInnen und jetzt kann auf diese Erfahrungen zurückgegriffen werden. Wichtig ist allerdings auch, dass nicht überall von den gleichen Voraussetzungen ausgegangen werden kann. Es gibt sicherlich Unterschiede in Bezug auf die technischen Voraussetzungen, nicht alle Schülerinnen haben die gleichen Geräte zuhause, welche sie aus dem schulischen Umfeld gewohnt sind. Ggf. gibt es auch Schwankungen in der Datenübertragung. Dies sollte man bei der Planung von Lehr- und Lerneinheiten berücksichtigen, sonst entstehen ungleiche Rahmenbedingungen und diese haben negative Auswirkungen auf die Lernmotivation und die Atmosphäre zuhause. Hier ist also auch Augenmaß, Geduld und Kommunikation zwischen allen Beteiligten, den Lehrenden, der Schüler und den Eltern gefragt.

 

Bietet die aktuelle Situation die Möglichkeit, die Digitalisierung im Schulbereich voranzubringen?

Die aktuelle Situation ist eine extreme Herausforderung in vielerlei Hinsicht. Vor allem müssen wir es schaffen, gesund zu bleiben und uns, wo immer es möglich ist und im Rahmen der Möglichkeiten zu unterstützen.  Schon jetzt stellen wir fest, dass die Zusammenarbeit sich auf schulischer und universitärer Ebene enorm entwickelt. Es vergeht kaum ein Tag ohne Telefon- oder Videokonferenz und wir tauschen kontinuierlich unsere Fragen, Erfahrungen und Erkenntnisse zur Planung und Umsetzung digitaler Lehr- und Lernmethoden aus. Daneben muss natürlich sehr viel organisiert werden, um die aktuelle Situation und die hoffentlich bald nahende Zeit nach dieser Ausnahmesituation gut bewältigen zu können. Somit ist feststellbar, dass die Digitalisierung in den Bereichen des Lehrens und Lernens sich schneller entwickeln wird, als sie ggf. ohne diesen drastischen Einschnitt in unser Leben getan hätte. Gleichwohl sind wir dadurch auch gezwungen, schneller, intuitiver und pragmatischer zu agieren. Das muss uns bewusst sein. Letztlich kann das aber auch Vorteile mit sich bringen.

 

In anderen Ländern ist Home-Schooling auch jenseits von Notsituationen nicht unüblich. Hat diese Form des Unterrichts das Potenzial, nicht nur als Notlösung künftig mehr Raum in unserem Schulsystem einzunehmen?

Ich bin ganz sicher, dass sich unsere Bildungslandschaft aufgrund der aktuellen Situation verändern wird. Ebenso bin ich fest davon überzeugt, dass wir alle, die wir mit Lehren und Lernen in den unterschiedlichen Fächern zu tun haben, diese Situation evaluieren werden um daraus Schlüsse für weitere Entwicklungen zu ziehen. Ggf. wird man vor dem Hintergrund der aktuell zu machenden Erfahrungen über bisherige „Systeme“ beraten und diese auch neu bewerten müssen. In manchen Diskussionen rund um das Thema Bildung bekommt man den Eindruck, dass es sich bei formalen und informalen Lernbereichen immer noch um getrennte, sich konträr gegenüberstehende Kontexte handelt. Die aktuelle Situation zeigt uns deutlich, dass hier ein Umdenken Vorteile bringt und das Zusammenwirken zu wesentlich größerem Erfolg führen kann. Ich bin sehr gespannt auf die künftige Diskussion darüber und blicke ihr motiviert entgegen.

 

Was raten Sie Eltern und Kindern, damit Schule auch zu Hause funktionieren kann?

Seitdem unsere Schulen geschlossen sind, haben sich die Rahmenbedingungen für das Unterrichten und Lernen verändert. Wir hatten dazu keinen Vorlauf und müssen jetzt darauf achten, dass alle Beteiligten sich auf dieses neue Lehr- und Lernsetting einstellen können. Zuhause lernen ist natürlich nicht grundlegend neu, aber nun findet der Unterricht digital unterstützt statt, die Schülerinnen und Schüler erhalten Aufgaben, Texte und auch Rückmeldungen dazu auf digitalem Wege, via E-Mail, Chat, Video etc. Ich finde es wichtig, dass wir uns auf diese veränderten Rahmenbedingungen gemeinsam einlassen. Wie bereits erwähnt zahlt sich die Geduld aus. Wenn wir uns in dieser Situation etwas Zeit nehmen können, die veränderten Rahmenbedingungen anzunehmen, dann haben wir sicherlich viel gewonnen. Auch in diesen neuen Lehr- und Lernsettings braucht es Stabilität, Achtsamkeit und Vertrauen zueinander.