Leistung für drei Arbeitsleben: Honorarprofessor Nechwatal verabschiedet sich in Ruhestand

Wenn man sich in den Ruhestand verabschiedet, erhält man eigentlich selbst Präsente. Doch Prof. Dr. Gerhard Nechwatal hat seine eigene Abschiedsveranstaltung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) als Rahmen genutzt, um der Öffentlichkeit mit dem Gastvortrag des renommierten Jugend- und Bildungsforschers Prof. Dr. Klaus Hurrelmann hochaktuelle, fundierte und kurzweilig vorgetragene Impulse zu schenken.

Nechwatal hatte sich dabei bewusst nicht in den Mittelpunkt gestellt, der Hinweis auf seinen Abschied als Honorarprofessor für Psychologie an der Fakultät für Soziale Arbeit fand sich nur kleingedruckt in der Ankündigung der Veranstaltung, wie Dekan Prof. Dr. Frank Wießner in seiner Würdigung vor zahlreichem Publikum feststellte. Sowohl Nechwatal als auch Hurrelmann hätten Beharrlichkeit bei der Planung der Veranstaltung bewiesen, die ursprünglich – noch unter dem Titel „Generation Greta“ – als Beitrag zum 40-jährigen Bestehen der KU im Jahr 2020 gedacht war und dann pandemiebedingt mehrfach verschoben werden musste. Die aktuellen Entwicklungen trugen auch dazu bei, dass sich das Thema laufend erweiterte bis hin zum aktuellen Vortragstitel „Zwischen Corona-Pandemie, Klimakrise und Kriegsangst: Wo steht die junge Generation im Sommer 2022?“.

Wießner
Dekan Prof. Dr. Frank Wießner

Dekan Wießner würdigte Nechwatal als Persönlichkeit, deren Wirken „für drei Arbeitsleben“ reiche. Nach einer Ausbildung zum Schaufensterdekorateur wurde Nechwatal über den zweiten Bildungsweg Diplom-Pädagoge und Diplompsychologe, wurde promoviert mit einer Arbeit zur Leitung sozialer Einrichtungen. Nechwatal war „unglaubliche 30 Jahre“ in verschiedenen Positionen im Caritas-Kinderdorf Marienstein tätig, in dem er unter anderem stellvertretender Leiter des Therapie- und Beratungsbereichs war. Zwischen 2008 und 2011 leitete er die psychologischen Beratungsstellen für Ehe-, Familien- und Lebensberatung des Diözese Augsburg in Schrobenhausen, Neuburg und Pfaffenhofen. Von 2011 bis 2017 war er Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL) im Bistum Eichstätt. 2012 schließlich ernannte ihn die Fakultät für Soziale Arbeit zum Honorarprofessor – als Anerkennung seines Wirkens als Lehrbeauftragte für die Fakultät seit den 1990er-Jahren. Dabei hat Nechwatal, wie Dekan Wießner betonte, „weitaus mehr als das vorgesehene Deputat übernommen und rund 100 Abschlussarbeiten betreut“.

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann

Zu seinem offiziellen Ruhestand im März 2020 habe Nechwatal trocken angekündigt: „Ich habe da noch den Klaus Hurrelmann.“ Und auch wenn sich Gastgeber und Referent zuvor noch nicht begegnet sind, merkte man, dass sie sich auf Anhieb sympathisch waren. Hurrelmann gehört seit 2002 dem Leitungsteam der Shell Jugendstudien an und begründete die World Vision Kinderstudien. Zudem hat er zahlreiche Lehrbücher in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht, darunter „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“ und Handbücher zur Sozialisations- und Gesundheitsforschung. Sein Modell der „produktiven Realitätsverarbeitung“, das die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen als Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität beschreibt, ist unter anderem auch Stoff für Abiturprüfungen. Das führt bisweilen zu kuriosen Anfragen von Schülerinnen und Schülern an den Forscher, die – wie er berichtete – ihn um Erläuterungen bitten, da er „ja noch lebt“.
    
In seinen komplett ohne mediale Unterstützung vorgetragenen und dennoch kurzweiligen und prägnanten Ausführungen ließ Hurrelmann die Entwicklung der Generationen der vergangenen 100 Jahre Revue passieren.  So habe der Soziologe Helmut Schelsky in der Nachkriegszeit die Jahrgänge von 1925 bis 1940 untersucht. „Alle glaubten, diese Generation rechnet mit ihren Eltern ab“, so Hurrelmann. Doch das schicksalhafte Erleben sei dominant, die Generation zwar skeptisch, jedoch nicht politisch engagiert gewesen. Die damalige Jugend habe sich angesichts fehlender Existenzperspektiven im Nachkriegsdeutschland im „Überlebensmodus“ befunden. Erst die Folgegeneration sei dann eine politische gewesen. Die heute 60- bis 65jährigen Babyboomer hätten zentrale Positionen besetzt. Die ihnen folgenden Generationen hätten erstmals auch negative wirtschaftliche Entwicklungen erlebt, später auch Terroranschläge. Dies habe wiederum zu einem Schulterschluss über Generationen hinweg geführt auch im Sinne einer wirtschaftlichen Absicherung.
    
Die aktuelle junge Generation wiederum stand im Mittelpunkt der gerade erschienenen Trendstudie „Jugend in Deutschland“, deren Co-Autor Hurrelmann ist. „Geht es den unter 25-Jährigen wirklich so schlecht?“, fragte er und stellte einige zentrale Ergebnisse der Erhebung vor. Zwar sei eine persönliche Zufriedenheit bei den jungen Menschen in Deutschland festzustellen, der Krisenmodus angesichts von Corona, Klimawandel und Krieg halte sie jedoch in Atem. Die jungen Menschen selbst hätten die Klimakrise ins Zentrum der Aufmerksamkeit geführt. Die eigentlich in diesem Alter natürlich vorhandene Selbstzuversicht habe eingebüßt. Für manche seien digitale Kanäle zum Anlass für Abhängigkeit und nicht produktive Nutzung geworden. Auch im Zuge der Pandemie sei mittlerweile ein Drittel der jungen Menschen im Bildungsbereich „eingeknickt“, die soziale Ungleichheit sei gestiegen.

Aula

Hier sieht Hurrelmann dringenden Handlungsbedarf im Bildungssystem für alle Entwicklungsaufgaben – von der reinen Qualifikation über Beziehungsfähigkeit und Eigenständigkeit bis hin zum souveränen Umgang mit Medien und einer Werteorientierung. „Die Unterstützungssysteme, die wir heute haben, sind nicht ausreichend! Junge Menschen wünschen sich gerade im schulischen Kontext mehr niedrigschwellige Beratungsangebote, die unkompliziert verfügbar sind“, so Hurrelmann.
    
Gleichzeitig würden derzeit die guten beruflichen Chancen die aktuellen Belastungen kompensieren. Jährlich würden 500.000 Menschen der Babyboomer-Generation das Berufsleben verlassen. Dabei sei wiederum die Berufswahl selbst eine Belastung angesichts einer Fülle an Möglichkeiten, die einen enormen Bedarf an Beratung nach sich ziehe. „Nichts steht uns im Weg. Aber das ist auch unser Problem. Wir haben so viele Möglichkeiten, dass wir erst einmal nicht wissen, was wir machen sollen“, zitierte Hurrelmann einen 18-jährigen Befragten. Hinzu komme, dass die Eltern für die aktuelle Generation die „Chefberater“ seien in allen Aspekten des Lebens. „Eine so hohes Einvernehmen zwischen Eltern und Jugendlichen haben wir in früheren Untersuchungen so nicht beobachtet.“ Das führe auch dazu, dass nicht die Jugendlichen selbst zu Beratungsterminen gingen, sondern die Mütter und Väter: „Meine Tochter hat heute eine ganz wichtige Party.“ Die Folge davon seien auch Entscheidungsschwäche und weniger Selbstständigkeit.
    
Dennoch habe die junge Generation innovative Lebensentwürfe vor Augen und bleibe optimistisch trotz großer Belastungen. Für sie sollen Lebensqualität und Arbeitsqualität miteinander verbunden sein. „Digital großgeworden wissen die jungen Leute, dass man theoretisch 24/7 arbeiten könnte, wenn man wollte. Und sie sind sich bewusst, dass es Unternehmen gibt, die dies auch wollen wollten. Deshalb halten sie sich sehr zurück und haben eine eingebaute Burnout-Sperre.“ Unterm Strich handele sich bei der aktuellen Generation um eine „wie immer“ – mit Stärken und Schwächen. „Sie ist so großgeworden, wie sie die Verhältnisse großgemacht haben. Deshalb lohnt sich eine Kritik an der jungen Generation moralisch überhaupt nicht.“