„Ohne Glaubwürdigkeit kann man in der Pandemie keine Kommunikation betreiben“

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Infektionszahlen auf Rekordniveau, Intensivstationen im Ausnahmezustand – kein guter Zeitpunkt für Uneinigkeit in der Gesellschaft. Ein Gespräch mit dem Soziologen Prof. Dr. Joost van Loon über die Erreichbarkeit von Skeptikern, Risikokommunikation und Fragen von Toleranz.

 

Herr van Loon, Sie haben sich unter anderem auch mit Fragen von Gesundheitskommunikation beschäftigt. Wie beurteilen Sie die offizielle Kommunikation im Lauf der Pandemie?
Anfangs war sie erstaunlich gut. Die Politik hat klargemacht, was sie weiß und was sie nicht weiß. Es wurde klar artikuliert, dass der Schutz der Bevölkerung an erster Stelle steht. Das hatte eine Vorbildfunktion auch für andere Länder. Staaten, in denen dies – aus unterschiedlichen Gründen –nicht so erfolgte, hatten deshalb auch mehr Probleme. In der zweiten Welle stand die Hoffnung auf eine Impfung im Mittelpunkt, man hat aber die dennoch vorhandene Unsicherheit zu deren Wirkung eher im Hintergrund gelassen. Der Lockdown hatte zudem gravierende soziale, wirtschaftliche und politische Konsequenzen, so dass zunehmend weitere Interessen in der Kommunikation zum Tragen kamen, die über den reinen Gesundheitsschutz hinausgingen. Das wirkte sich dann wiederum auf die Kommunikation und die Entscheidungen rund um die dritte Welle aus. Durch das Zurückfahren von Testangeboten etwa entstand der Eindruck, dass die Impfung einen kompletten Schutz biete, obwohl es schon andere Erkenntnisse dazu etwa aus Israel gab. Generell sind viele andere Interessen neben die des Gesundheitsschutzes getreten. Die anfangs artikulierte Linie „Gesundheit ist das Wichtigste“ wurde politisch gegen andere Interessen abgewogen werden, so dass auch die Kommunikation nicht mehr eindeutig war. Hinzu kommt, dass etwa Berichte über die Maskenaffäre die Glaubwürdigkeit der Politik untergraben haben. Aber ohne Glaubwürdigkeit lässt sich keine Risikokommunikation betreiben.

Hat die Art der Kommunikation, die sie beschreiben, zur Bildung von Lagern zwischen Befürwortern und Gegnern der Maßnahmen beigetragen?
Ich denke, sie hat sie verstärkt. In der Kommunikation hat man ja gerade auf diese Lager und Falschinformationen mühsam reagieren müssen – und man muss dies immer noch. Auf der einen Seite hat man tatsächliche Unsicherheit, die in der Natur von noch laufender Forschung liegt. Auf der anderen Seite gibt es zusätzlich Falschinformationen, mit denen man sich auch in der Kommunikation befassen muss. Er ist eine unglaublich schwere Aufgabe, die eigene unsichere Position und die laufende Forschung darzustellen und gleichzeitig gegen Falschinformationen anzukommen. Dennoch denke ich, dass man sich davon zu sehr hat treiben lassen

Worauf führen sie die Bildung von Lagern zurück? Ist die Pandemie Anlass oder Ursache dafür?
Meiner Meinung nach hat diese Entwicklung ihren Anfang in den 1970er-Jahren. Man begann damals den Wohlfahrtstaat zurückzufahren verbunden mit dem Versprechen, dass der Markt alles zum Besseren verändern werde. Das ist aber nicht passiert. Es entstand keine bessere Welt für alle, sondern eine bessere Welt für einige. Das hatte nicht nur Auswirkungen auf Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern auch Kultur und Medien. In der Öffentlichkeit finden kaum noch Debatten mehr statt, sondern es werden Behauptungen aufgestellt. Es hat ein Wandel stattgefunden von einer Öffentlichkeit der Diskussion hin zu einer Öffentlichkeit der Behauptungen und Meinungen. In der Soziologie gibt es dafür den Begriff der „Culture Wars“, in denen Teile der Gesellschaft nicht mehr miteinander debattieren können. In der Corona-Zeit führt das dazu, dass es keine Debatten mehr gibt, sondern nur noch Lager, die ihre Behauptungen vertreten. Dazwischen gibt es keine Brücken mehr. Dies konnte man jedoch auch schon beobachten vor dem Hintergrund der Flucht-Thematik, der Finanzkrise oder dem Klimawandel. Es wird nicht mehr zugehört, sondern viel geredet. Das macht es auch für die Wissenschaft schwieriger, denn ihre Erkenntnisse gewinnen ihren Wert durch die Prämisse, dass sie nicht aufgrund bestimmter Interessen vorbestimmt sind. Aber zum Beispiel gerade in der Prüfung der Impfstoffe besteht eine große Unabhängigkeit der zuständigen Stellen. Nur – wie vermittelt man dies an eine Öffentlichkeit, die nicht mehr empfangsbereit ist?

Welche Haltung gegenüber Wissenschaft gibt es derzeit in der Öffentlichkeit?

Man muss unterscheiden zwischen den 75 bis 80 Prozent in Deutschland, die zumindest eine pragmatische Akzeptanz für die Maßnahmen haben und etwa der Impfung eine Wirksamkeit zuschreiben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass etwa ein Viertel nicht so denkt. Das ist nicht wenig! Das größte Problem an dieser Gruppe ist, dass sie nicht interessiert ist an Wissenschaft und deren Verfahren. Sie suchen nur nach Ergebnissen, die ihre Haltung bestätigen. So entsteht eine Sammlung an Aussagen und Informationen, die eine eigene Realität kreieren. Wer da drin ist, kommt nur ganz schwer raus, weil alles unter Verdacht steht. Mit solchen Leuten kann man nicht mehr sprechen.

Loon
Prof. Dr. Joost van Loon hat an der KU den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie inne.

Der Soziologe Ulrich Beck hat in seinem Werk „Risikogesellschaft“ argumentiert, dass nicht die Risiken selbst im Mittelpunkt stehen, sondern wie über Risiken in Medien gesprochen wird. Damals gab es noch keine Sozialen Medien. Welche Rolle spielen diese im Vergleich zu klassischen Medien?
In der Entstehungszeit von „Risikogesellschaft“ gewann die Kommerzialisierung von Medien an Bedeutung. Die Logik der Quote treibt seitdem auch nicht-kommerzielle Medien. Soziale Medien wiederum sind gewissermaßen hyper-kommerzielle Medien ohne Kontrollinstanz. Die Produzenten sind gleichzeitig die Konsumenten. Entsprechende Plattformen verdienen wiederum viel Geld damit, wenn Falschinformationen aufeinander verweisen. Vermeintliche Risiken werden so aus den sozialen Netzwerken heraus generiert, ohne dass sie noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Wie kann man dieser Entwicklung begegnen?
Der Großteil der Menschen denkt zumindest, dass es keine bessere Alternative zu den Maßnahmen gibt. Das bedeutet nicht gleichzeitig, dass diese Menschen ein großes Vertrauen in die Politik haben, deren Glaubwürdigkeit gesunken ist. Wichtiger ist, dass diese Menschen immer noch durch ihr Handeln zeigen, wie sehr ihnen an einer Lösung gelegen ist und sie sich beteiligen wollen. Ich finde, das gibt Hoffnung! Nicht alle müssen zutiefst überzeugt sein, man muss sie einfach stärken in ihrem Pragmatismus. Außerdem sollte die Bevölkerung viel stärker in wissenschaftliche Prozesse einbezogen werden, um die Akzeptanz zu stärken. Es ist für mich zudem unverständlich, dass Politiker in Zeiten von Corona immer noch Geld mit Nebentätigkeiten verdienen können. Wenn man ein politisches Amt wirklich ernstnimmt, sollte man meiner Meinung nach gerade in Krisenzeiten alle Nebenjobs ablehnen. Ansonsten macht man nicht nur seine eigene Position unglaubwürdig, sondern Politik an sich. Politik darf zudem nicht nur die Wichtigkeit von Gesundheit betonen, sondern muss auch die Rechnungen bezahlen – durch Reformen im Gesundheitssystem oder der Krankenversicherung. Erst dann ist Solidarität glaubwürdig.

Soziologie beschäftigt sich unter anderem auch mit der Wechselwirkung von Individuen und der Gesellschaft. Welche Bedingungen sollten dabei für die Pandemie gelten?
Man muss unterscheiden zwischen einer Gemeinschaft und einer Gesellschaft. Eine Gemeinschaft hat ein- und ausschließende Aspekte. Eine Gesellschaft hingegen versammelt Fremde. Nehmen sie den Straßenverkehr als Beispiel für eine totale Gesellschaft: Wir begegnen und dort alle als Fremde und stimmen uns entlang bestimmter Normierungen untereinander ab – unabhängig von der Person. Rassismus etwa hat im Straßenverkehr keinerlei Bedeutung. Es ist sofort auffällig, wenn sich jemand asozial verhält. Die Pandemiepolitik muss man unter den Bedingungen einer Gesellschaft, nicht einer Gemeinschaft betreiben. Wir müssen uns gewissermaßen alle als potenziell Infizierte betrachten. Diese Grundlage gab es noch zu Beginn der ersten Welle der Pandemie.

Welche Rolle spielt Toleranz in der Pandemie?
Toleranz ist für mich in diesem Zusammenhang kein normativer, kein moralischer Aspekt. Vielmehr schwingen für mich dabei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit mit. Als gut abgesicherter Akademiker brauche ich selbst zum Beispiel keine Hilfe – im Gegensatz zu einer alleinerziehenden Verkäuferin, von der viel mehr Toleranz eingefordert wird.

Wie robust sind Gesellschaften für den Umgang mit solchen Phasen?
Eine Gesellschaft an sich ist nicht robust. Unsere Welt ist leicht zerstörbar – denken Sie etwa an den Krieg im früheren Jugoslawien, in dem sich binnen kurzer Zeit ehemalige Nachbarn bekämpften. Doch die große Fähigkeit von Menschen besteht darin, sich auf neue Situationen einzustellen. Am Ende gibt es meist genügend Menschen, die nicht nur ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Die Empörung über die Vorteilnahme von Politikern in Zeiten der Pandemie ist ein Zeichen dafür. Diejenigen, die dafür sorgen, dass es weitergeht, machen einfach ihre Arbeit. Ehrenamtliche etwa haben gar keine Zeit, um sich an Mythenbildung rund um die Pandemie zu beteiligen. Soziale Medien bilden hier somit auch kein authentisches Bild ab, weil sich dort eine laute Minderheit artikuliert. Wir können uns keinesfalls zurücklehnen, aber es ist auch nicht hoffnungslos.