Mit Papst Franziskus verlässt uns ein großer Papst, der in Zeiten wachsender Krisen, Konflikte und Ungleichheit eine prophetische und zutiefst menschliche Stimme war, die konsequent die Armen ins Zentrum stellt, die auch unbequeme Wahrheiten ausspricht und für Dialog und Frieden eintritt, wo andere sich in ihren Stellungen eingerichtet haben und die Fronten verhärtet sind. Der Name des Franz von Assisi, den Jorge Mario Bergoglio (1936-2025) bei seiner Wahl zum Papst am 13. März 2013 angenommen hat, steht programmatisch für sein Pontifikat: die Hinwendung zum Volk und zu den Armen, seine Menschlichkeit und Spontanität in Predigten und Liturgie, die Barmherzigkeit als Zentrum des Glaubens, die Kritik an einer „Wirtschaft, die tötet“, sein Eintreten für die unbedingte Würde jeden menschlichen Lebens, die Verbundenheit mit der Erde und der Einsatz für eine ökologische Umkehr, das immer wieder neue Wagnis des Dialogs und die Mahnung zum Frieden verwandeln die Botschaft des Christentums von einer abstrakten Lehre in einen Stil und eine Lebensform, in denen die Botschaft des Evangeliums konkret wird und vor Entscheidungen stellt.
Hatte Papst Benedikt vor einer „Diktatur des Relativismus“ gewarnt, so konfrontiert Franziskus den „praktischen Relativismus“ einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, für den Aktienkurse mehr zählen als die täglichen Toten auf den Flüchtlingsrouten oder an den Straßenrändern. Die erste Reise dieses Papstes galt den Flüchtlingen auf Lampedusa, als eine der letzten Amtshandlungen besuchte er am Gründonnerstag im Rollstuhl die Häftlinge im Regina-Coeli-Gefängnis in Rom. Gerade mit den Prioritäten, die er auf diese Weise gesetzt hat, hat er konsequent Christus ins Zentrum gestellt, der in den Geringsten begegnet (Mt 25,31-46). Vielen – besonders auf der politischen „Rechten“ – war der Papst zu politisch, anderen – besonders liberalen Kirchenreformern – war er an entscheidender Stelle, wenn es um die kirchenrechtliche Durchsetzung von Reformen ging, zu „fromm“ bzw. spirituell. Dabei zeigt er, wie das eine sich vom anderen nicht trennen lässt: Wer sich auf die politische Situation der Gegenwart einlässt, braucht eine starke spirituelle Verwurzelung, um nicht in Resignation zu kippen, selbst dem Gruppendenken oder Strategien der Gewalt zu verfallen. Und eine Spiritualität, die den Umgang mit der Erde, die Entfremdung vom leiblichen Dasein in der Gegenwart, die fehlende Empathie mit Fremden und das Denken in Feindbildern als eine geistliche Krise wahrnimmt, muss politisch werden.
An den sozialethischen Positionen des Papstes lässt sich anschaulich zeigen, wie er jenseits der politischen Lager klare, im besten Sinne „radikale“ (an der Wurzel ansetzende) Positionen vertritt. Mit der Enzyklika Laudato si´ hat der Papst die „Sorge um das gemeinsame Haus“ ins Zentrum katholischer Soziallehre gerückt: Die dramatische Gefährdung des Planeten und die Dringlichkeit einer grundlegenden ökologischen Transformation der Lebens- und Wirtschaftsweise der Menschen stellt er mit dem ganzen Gewicht seines Amtes vor Augen. Dabei handelt es sich aber nicht einfach um eine „grüne“ Umweltenzyklika, die an die Interessen einer „woken“ und gebildeten Mittelschicht anknüpft. Vielmehr ist Laudato si´ eine Sozialenzyklika, die durchgängig Fragen der Nachhaltigkeit mit Fragen globaler Gerechtigkeit verknüpft. Es geht nicht um einen „grünen Kapitalismus“, sondern um die Überwindung der weltweiten sozialen Ungerechtigkeit. So formuliert er, „dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde“ (LS 49).
Gegenüber den Tendenzen der technokratischen Durchsetzung einer grünen Agenda fordert er ein neues Verhältnis zur Technik, welches das globalisierte „technokratische Paradigma“ der westlichen Moderne überwindet und den Umgang mit Technologie in ein ganzheitliches Verständnis von Ökologie einbettet (LS 101-162). Dazu rezipiert er ebenso entschieden die Erkenntnisse der zeitgenössischen Klima- und Umweltwissenschaften (LS 17-61) wie er eine Rückbesinnung auf die Weisheit lokaler und indigener Traditionen fordert, in Laudato si´ unter dem Stichwort der „Kulturökologie“ (LS 143-146), auf der Amazonassynode in einem im Lebensraum/Biom verorteten synodalen Prozess (vgl. Querida Amazonia). Eine integrale Ökologie bezieht sich auch auf die Werte des Lebens, der Familie und den Umgang mit dem eigenen Körper als einer Gabe. Hier zitiert er Papst Benedikt, der vor dem deutschen Bundestag „sagte, dass es eine ‚Ökologie des Menschen‘ gibt, denn ‚auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann‘“ (LS 155). Er hält damit Aspekte zusammen, die im politischen Disput oft auseinandergerissen werden, orientiert sich darin am Menschen, an den Rhythmen der Schöpfung und am Evangelium.
Hierzu gehört auch die fundamentale Einsicht, dass es keine Ökologie und keine soziale Gerechtigkeit geben kann ohne Frieden und Überwindung der Kriege. Gegen die Tendenz, sich angesichts neuer Feinde und Bedrohungen in Abkehr von pazifistischen Positionen einer olivgrünen Politik zuzuwenden, hat Papst Franziskus in Fratelli tutti – und in zahlreichen späteren Reden – immer wieder herausgestellt, dass es im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen und der Globalisierung keine gerechten Kriege mehr geben kann (FT 258): „So entscheidet man sich dann leicht zum Krieg unter allen möglichen angeblich humanitären, defensiven oder präventiven Vorwänden, einschließlich der Manipulation von Informationen. In der Tat gaben in den letzten Jahrzehnten alle Kriege vor, ‚gerechtfertigt‘ zu sein. […] Der springende Punkt ist, dass durch die Entwicklung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen und durch die enormen und wachsenden Möglichkeiten der neuen Technologien der Krieg eine außer Kontrolle geratene Zerstörungskraft erreicht hat, die viele Unschuldige trifft. […] Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ‚gerechten Krieg‘ zu sprechen. Nie wieder Krieg!‘“
Angesichts massiver Konflikte, eskalierender Gewalt und himmelschreiendem Leiden heißt das zugleich: kein Friede in der Welt ohne gesprächsbereite Diplomatie, handlungsfähige internationale Organisationen und Dialog auf allen Ebenen. Dialog aber bedeutet, sich den Konflikten zu stellen, um diese gewaltfrei zu bearbeiten und eine „Lösung auf einer höheren Ebene“ zu suchen (EG 228). So formuliert Papst Franziskus bereits in Evangelii Gaudium (EG 222-237) programmatisch, dass es nicht darum gehe, Räume zu besitzen, sondern Prozesse anzustoßen; dass es nicht um einen Streit von Ideen gehe, sondern darum, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen und aus diesem Kontakt heraus Unterscheidungen zu treffen; dass die Einheit mehr wiegt als der Konflikt; dass diese Einheit aber wiederum nicht Vereinheitlichung nach dem Modell des vom Zentrum her organisierten „Globalen“ (der Kugel) bedeutet, sondern den Respekt vor den Eigenarten und Besonderheiten jeder Kultur und Person verlangt, wobei dennoch und gerade dadurch das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (Modell des Polyeder).
Diese starken politischen und sozialethischen Akzente dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Zentrum der Äußerungen von Papst Franziskus das Evangelium und Christus selbst steht. Das Evangelium gewinnt seine befreiende Kraft ja gerade dort, wo es am dringendsten gebraucht wird: Papst Franziskus hat das in seiner programmatischen Schrift über die „Freude des Evangeliums“ gleich zu Beginn seines Pontifikats entfaltet. Dieses Schreiben ist mir nach wie vor das kostbarste unter seinen Äußerungen. Hier werden alle leitenden Motive seines Pontifikats vom Evangelium und aus der Beziehung zu Christus und zu den Armen heraus entwickelt. Das „Politische“ bei Franziskus entspricht wie bei dem Poverello Franz von Assisi dem „Evangelischen“: der lebendigen Beziehung zu Christus, dessen Verkündigung dem Reich Gottes galt und der in den Menschen am Rand und den Armen begegnet. Deshalb sind die Armen Lehrmeister des Glaubens: „Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen“ (EG 198).
All die genannten Motive kommen zusammen in der Hinwendung zu einer synodalen Kirche, die das Pontifikat von Papst Franziskus von Anfang an (vermutlich schon aus seinen Erfahrungen in Aparecida her) begleitet und mit der Amazonassynode und der Synode zur Synodalität 2021-2024 Gestalt gewinnt. Mit der Wendung zur Synodalität macht Franziskus damit ernst, dass in Christus das ganze Volk Gottes Subjekt der Kirche ist – in den verschiedenen Ämtern, Charismen, Funktionen und spannungsreichen Positionen, die zu diesem Volk gehören. Die (kirchen-)politische und die geistlich-spirituelle Dimension sind hier in einem strukturierten Prozess aufs engste miteinander verklammert, in der Hoffnung darauf, dass im Hören aufeinander das Wort Gottes sichtbar wird und dass der Geist die Kirche zu jenen „Lösungen auf einer höheren Ebene“ (EG 228, QA 104) führen kann, die aus den Perspektiven der verschiedenen Lager unerreichbar sind.
Die Hinwendung zu einer synodalen Kirche dürfte das wichtigste Vermächtnis des Papstes für die Zukunft bilden. Mit ihr wächst die katholische Kirche in eine neue Form und Gestalt des Kirche-Seins hinein. Das Verständnis der Kirche als messianisches Gottesvolk, wie es das Konzil formuliert hatte, hat der Papst in einen offenen und geistlichen Prozess der Verständigung und Kirchenbildung übersetzt, der über sein eigenes Pontifikat hinausreichen wird und auch ökumenisch neue Chancen eröffnet. Vielleicht wird die Wendung von der römischen Kirche zu einer synodalen, „polyedrischen“ Weltkirche rückblickend einmal den Grundstein für ein neues ökumenisches Konzil gelegt haben, an dem Christinnen und Christen aus allen Konfessionen beteiligt sind, um sich selbst und der Welt das Evangelium neu zu erschließen.