„Sowas darf eigentlich nicht passieren“ – Politikwissenschaftler Stüwe ordnet Merz‘ Scheitern bei der Kanzlerwahl ein

Es ist ein historisches Scheitern: CDU-Vorsitzender Friedrich Merz wurde heute nicht – wie allseits erwartet – im ersten Wahlgang im Bundestag zum Kanzler gewählt. Sechs Stimmen fehlten ihm am Vormittag für die Mehrheit, was bedeutet, dass mindestens 18 Abgeordnete der Koalition aus CDU/CSU und SPD ihm ihre Stimme zunächst verweigert haben. Erst im zweiten Wahlgang am Nachmittag war Merz erfolgreich. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Stüwe von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) ordnet die überraschenden Ereignisse im Interview ein.

Hinweis: Das Interview wurde am Dienstag kurz vor 12 Uhr geführt, als der zweite Wahlgang noch nicht feststand.

Klaus Stüwe
Prof. Dr. Klaus Stüwe

Der designierte Kanzler Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang gescheitert – wie kann so etwas passieren?

KLAUS STÜWE: Sowas darf eigentlich nicht passieren nach den langen Vorbereitungen. Wenn die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind und der Koalitionsvertrag unterschrieben wurde, dann ist es immer nur Formsache gewesen in den vergangenen 75 Jahren. Dass es diesmal nicht geklappt hat, ist wahrscheinlich ein Zusammentreffen von verschiedenen Faktoren. Da gibt es Unzufriedene, die bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt wurden, keine Posten bekommen haben, da gibt es alte Rechnungen, weil man Merz sowieso nicht leiden kann –  und zwar bei beiden beteiligten Fraktionen. Wenn das alles zusammenkommt, dann ist es diesmal passiert, dass die entscheidenden Stimmen gefehlt haben.

Die große Überraschung aller Beteiligten zeigt, dass es sich um ein ungewöhnliches Ereignis handelt. Gab es so ein Scheitern zuvor schon einmal?

KLAUS STÜWE: Nein, das gab es bislang noch nie. Es gab knappe Entscheidungen wie 1949 bei Adenauer, der nur mit einer Stimme Mehrheit gewählt wurde. Oder bei Helmut Kohl, der auch mal nur mit einer Stimme mehr gewählt wurde. Bei Schröder waren es mal drei Stimmen über dem Durst. Aber dass ein Kanzler im ersten Wahlgang gescheitert ist, das gab es noch nie. Ein historischer Tag.

Wie geht es denn nun weiter?

KLAUS STÜWE: Das Grundgesetz sieht dafür klare Regeln vor. In Artikel 63 steht, dass wenn ein Vorgeschlagener im ersten Wahlgang scheitert, so wie jetzt passiert, dann hat der Deutsche Bundestag insgesamt 14 Tage lang Zeit, einen Bundeskanzler zu wählen, auch wieder mit absoluter Mehrheit. Das Heft liegt jetzt also beim Deutschen Bundestag. Ich gehe davon aus, dass Friedrich Merz nochmal antritt und es in einem nächsten Wahlgang versuchen wird.

Was wird in der Zeit bis dahin passieren?

KLAUS STÜWE: Vielleicht macht Merz Zugeständnisse, aber er wird vor allen Dingen an die staatsbürgerliche Verantwortung seiner Fraktion, aber auch der SPD-Fraktion appellieren. Und ich meine, das ist auch dringend notwendig, sowas hat es noch nie gegeben. Keiner darf jetzt in dieser schwierigen Situation mit all den Krisen, die wir haben, riskieren, dass wir in eine Staatskrise geraten. An diese Verantwortung wird Merz und werden wahrscheinlich auch andere Beteiligte, vielleicht sogar der Bundespräsident, appellieren.