Für ihre Studie zogen die Forscherinnen Prof. Dr. Elisabeth Kals und Isabel T. Strubel das Konzept des sogenannten „Scope of Justice“ aus der Sozialpsychologie heran. „Dieses beschreibt ein imaginäres Band, das wir beispielsweise um die eigene Familie, die eigene Nation oder auch alle Lebewesen (Tiere und Pflanzen) ziehen. Für alle innerhalb dieses Bandes gelten dieselben Gerechtigkeitserwägungen, was umgekehrt andere ausschließt. Außerdem ist man bereit, für den inneren Kreis Ressourcen zu teilen oder persönliche Opfer zu bringen“, erklärt Kals.
Konkret wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie unter anderem dazu befragt, ob Flüchtlinge den gleichen Anspruch auf eine gerechte Behandlung wie alle anderen Mitbürger haben und für sie gleichen Gerechtigkeitsmaßstäbe gelten sollten. Dabei zeigte sich, dass zwar auch Nichtengagierte weitgehend für die Anwendung gleicher Maßstäbe für alle plädieren; der Vergleich zu Personen der Stichprobe, die sich für Flüchtlinge engagieren, zeigte bei diesen jedoch eine noch stärkere Ausprägung des „Scope of Justice“. Gleiches gilt für die Bereitschaft zu persönlichen Opfern bzw. die Verteilung staatlicher Ressourcen.
„Bei der Studie handelte es sich um eine Befragung auf freiwilliger Basis, so dass gerade Personen, die Geflüchteten ablehnend oder auch gleichgültig gegenüberstehen, nur schwer zu motivieren sind, an einer solchen Befragung mit Fokus auf Flüchtlingshilfe teilzunehmen“, erläutert Strubel die Datenbasis der Erhebung. Dennoch sei der Scope of Justice für die aktuelle Flüchtlingsthematik von großer Bedeutung. Denn Gerechtigkeitswahrnehmungen seien im Kontext der Flüchtlingshilfe ernst zu nehmen, um Konflikte zu entschärfen. Das Konzept biete Ansatzpunkte für eine Verständigung zwischen Geflüchteten und aufnehmender Gesellschaft, aber auch zwischen Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die sich im politischen und privaten Kontext in ihrer Meinung gegenüber der Aufnahme und Integration von Geflüchteten diametral gegenüberzustehen scheinen.
Daher stellt sich die Frage, wie sich das subjektive Gerechtigkeitsempfinden auf die Geflüchteten erweitern lässt? Als Schlüssel hierfür sieht Kals unter anderem die gezielte Entwicklung von Empathie in Anlehnung an die Bildungs- und Moralpädagogik. Dies könne etwa geschehen, indem ein persönlicher Kontakt hergestellt, persönliche Schicksale miteinander geteilt werden oder indem man sich für gemeinsame Ziele und Projekte mit jenen Personen engagiert, die aus dem eigenen Scope of Justice ausgeschlossen sind. So habe sich in einer Feldstudie anderer Forscher gezeigt, dass viele Anwohner zunächst gegen den Bau eines Flüchtlingsheims in der eigenen Nachbarschaft opponierten, aber jegliche Form des Kontakts, einschließlich zufälliger Begegnungen, half, um negative Einstellungen gegenüber Geflüchteten zu verringern. „Damit sind es letztlich Erfahrung und Methoden des Diskurses, die kognitive, emotionale und motivationale Strukturen auf individueller Ebene verändern und so zu einem weiteren Scope of Justice führen“, so Strubel.
Auf politischer Ebene seien Gerechtigkeitswahrnehmungen hinsichtlich des Umgangs mit Geflüchteten ernst zu nehmen, um die Akzeptanz möglicher Maßnahmen zu deren Integration zu erhöhen. Es gelte, nicht nur darüber zu verhandeln, wie finanzielle Ressourcen verteilt werden, sondern beispielsweise auch, wie sich die Geflüchteten in den Arbeitsmarkt integrieren lassen. Damit würden sie einen Gewinn für den Arbeitsmarkt und damit für Deutschland bedeuten. „Eine solche Sicht würde von der Perspektive des ,Wegnehmens‘ oder gar des Sich-bedroht-Fühlens wegführen“, sagt Professorin Kals.