Theologie in der Zeit von Flucht und Migration

"Niemand kann sich auf die christliche Botschaft berufen, der nicht die Radikalform der Fremdenliebe als Maßstab des Lebens - auch des politisch öffentlichen Lebens - anerkennt", sagt Privatdozent Dr. René Dausner (Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie). Wir haben uns mit ihm über die theologischen Aspekte von Flucht und Migration unterhalten.

Sie nahmen vor kurzem für einen Vortrag über „Theologie in Zeiten der Migration“ Bezug zu einer Stelle im Alten Testament, wo es im 5. Buch Mose heißt, dass Gott „die Fremden liebt und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Auch Ihr sollt die Fremden lieben, denn Ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“. Gastlichkeit müsste demnach in christlich geprägten Ländern doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, oder?

Sie haben vollkommen recht: Wer die biblische Botschaft ernst nimmt, kommt nicht umhin, Gastlichkeit als einen zentralen theologischen Auftrag zu einer menschenfreundlicheren, humanen Welt zu begreifen. Im Griechischen heißt Gastlichkeit übrigens „xenophilie“, wörtlich: Fremdenliebe. Die Fremdenliebe, wie sie in dem von Ihnen genannten Zitat vorkommt, ist eine der vielleicht schönsten Wesensumschreibungen Gottes. Was bedeutet aber Gastlichkeit oder Fremdenliebe genau?

In der zitierten Stelle ist nicht direkt von Nahrung und Kleidung die Rede, sondern wörtlich von Brot und einem Mantel. Kommen Ihnen diese beiden Gegenstände – Brot und Mantel – nicht vertraut vor? Zunächst das Brot: Immer wieder wird die Versorgung der Bedürftigen in der Bibel zum Thema. Beim Propheten Jesaja heißt es sogar, dass ein Fasten in den Augen Gottes darin besteht, den letzten Bissen Brot dem oder der Notleidenden zu geben. Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, dass das Brot auch als Ausdruck der Lebenshingabe Jesu gedeutet wird, die wir in der Eucharistie feiern. Und dann, zweitens, wird der Mantel genannt, der uns allen auch aus den Heiligenlegenden bestens bekannt ist: Denken Sie nur an Sankt Martin. Was tut der heilige Martin? Er teilt seinen Mantel und gibt die zweite Hälfte einem Fremden, der ihm zufällig begegnet und sich ihm in seiner ganzen Hilfsbedürftigkeit zu erkennen gibt. Es kann daher nicht verwundern, dass in der neueren Theologie die Erkenntnis gereift ist, dass Gastlichkeit Inbegriff dessen ist, was wir als Heiligkeit zu umschreiben gewohnt sind. Wir müssen nun neu sehen lernen und Flucht und Migration als Zeichen unserer Zeit begreifen.

Angesichts dieser Radikalität des Gottesgedankens leuchtet das berühmte Wort aus dem Hebräerbrief ein, das in Eichstätt buchstäblich auf einem der Steinblöcke vor der Universitätskirche, der sog. Schutzengelkirche, eingraviert ist: „Vergesst die Gastfreundschaft (griech. xenophilie) nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr 13,2) Die Überlegungen zeigen, dass sich niemand auf die christliche Botschaft berufen kann, der nicht diese Radikalform der Fremdenliebe als Maßstab des Lebens – auch des politisch öffentlichen Lebens – anerkennt.


Was kennzeichnen Flucht und Migration als „Zeichen der Zeit“?

Der Begriff der Zeichen der Zeit ist ein theologischer Fachbegriff. Um zu verstehen, was dieser terminus technicus bedeutet, muss man sich die historische Situation seiner Verwendung vor Augen führen. Papst Johannes XXIII. hat in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ (deutsch: Frieden auf Erden, 1963) auf diesen bereits biblisch geprägten Begriff der Zeichen der Zeit zurückgegriffen, um seine Vorstellung einer Neubesinnung des Verhältnisses von Kirche und Welt zu beschreiben. Kirche sollte nicht mehr schlicht als Gegenmodell zur Welt verstanden werden, sondern gemäß ihrem eigenen Auftrag in der Welt wirken. Entsprechend heißt es im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), es gehe darum die Zeichen der Zeit zu erkennen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten (vgl. Gaudium et spes, Nr. 4).

Angesichts dieser Tradition der Wendung „Zeichen der Zeit“ stellt sich heute die Frage, welche Zeitzeichen uns beschäftigen sollten – gerade wenn es darum geht, diese Zeichen im Licht des Evangeliums zu deuten. Unzweifelhaft sind die Themen „Flucht und Migration“ solche Zeichen der Zeit. Und die Theologie tut gut daran, diese Zeichen aufzugreifen, um nach Antwortlösungen aus dem Glaubensleben zu suchen. Meines Erachtens ist es höchst bemerkenswert, dass Papst Franziskus mit bewegenden Worten und Taten dieses Thema wieder und wieder in den Fokus der Öffentlichkeit stellt. Und er tut es auf eine sehr sympathische und zugleich authentische Art und Weise. Das spüren auch kirchenferne Menschen, so dass Franziskus heute ein hohes Maß an gesellschaftlicher Anerkennung und Autorität genießt. In seinem nachsynodalen Schreiben „Amoris laetitia“ (deutsch: Freude der Liebe, 2016) spricht Papst Franziskus von den Migrationen – im Plural – als Zeichen der Zeit, indem er Passagen aus der Familiensynode zitiert. Damit wird deutlich: das Schicksal der Migrantinnen und Migranten ist auch unser Schicksal. Ohne pathetisch werden zu wollen, müssen wir doch erkennen, dass wir alle in einem Boot sitzen. In dieser radikalen Weise drängt sich die Flucht- und Migrationsthematik als „Zeichen der Zeit“ auf. Darum ist es würdig und recht, dass sich die einzige Katholische Universität in Deutschland dieses Themas in einem eigenen Forschungszentrum angenommen hat.

Welche konkreten Impulse können Ihrer Meinung nach von der Theologie zur Debatte um Asyl und die Aufnahme von Flüchtlingen ausgehen?

In aktuellen Diskussionen, an denen auch die Vereinten Nationen beteiligt sind, spielt die Frage der Gestaltung öffentlicher Räume und der Stadtentwicklung eine zentrale Rolle. Hintergrund sind die sogenannten Megastädte, die immer mehr und immer schneller wachsen. Für die Geflüchteten bieten diese Städte die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen, und sei es auch nur für die nächste Generation. Aber allein die Möglichkeit, beispielsweise Zugang zum Gesundheitswesen zu haben, wirkt für diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, wie ein Gewinn.

Die Frage der Gestaltung von Lebensräumen und noch konkreter auch von Städten findet sich bereits in der Bibel. Beispielsweise wenn erzählt wird, dass ganz bewusst sogenannte Asylstädte eingerichtet werden sollten, zeigt sich das Ringen um eine Konkretion des Menschlichen: Drei Städte westlich und drei Städte östlich des Jordans. Damit war sichergestellt, dass derjenige, der unschuldig schuldig geworden ist und sich auf der Flucht befand, von überall her in Israel eine solche Asylstadt erreichen konnte.  Von der biblischen Tradition her können wir fragen, wie diese Städte gestaltet werden sollen, um ein menschlicheres Antlitz zu erhalten. Dabei geht es nicht um Kosmetik, sondern um den Ausdruck eines neuen Wohnens. Wohnen und Bauen sind nicht nur Fragen der Architektur und der Stadtgestaltung, sondern auch philosophische und politische und eben auch theologische Fragen. Eine konkrete, praktische Frage lautet: Gibt es in den neuen Städten der Zukunft Raum auch für das Gebet?

Um die theologische Bedeutung der Ortsfrage zu veranschaulichen, möchte ich am Ende an eine Rede von Papst Franziskus erinnern. Bei seiner ersten Reise nach Lampedusa  hat Franziskus die ersten beiden Fragen Gottes in der Bibel betont: Die erste Frage richtet sich an Adam und lautet: Wo bist du? Ganz konkret also die Frage, wo die Begegnung mit einem Menschen möglich wird. Diese theologisch-anthropologische Frage nach dem Ort des Menschlichen wird unsere Debatten um die Stadtentwicklung prägen müssen, wenn wir an einer humanen Welt interessiert sind. Und die zweite Frage Gottes, die Franziskus ebenfalls aufgegriffen hat, wendet sich an Kain und lautet: Wo ist dein Bruder? Menschlichkeit zeichnet sich durch die Verantwortlichkeit für unsere Geschwister ab. Denn als Kinder Gottes sind alle Menschen Schwestern und Brüder. Muss uns daher die Frage, wo und wir die anderen Menschen leben können nicht beunruhigen? Bekanntlich weist Kain die Frage zurück, indem er kaltschnäuzig zurückfragt: Bin ich der Hüter meines Bruders? Theologisch betrachtet kann die Antwort nur entschieden bejaht werden.

Interview: Constantin Schulte Strathaus

 

 

René Dausner, geb. 1975, Dr. theol., Privatdozent der KU Eichstätt-Ingolstadt, derzeit Lehrstuhlvertreter für Systematische Theologie an der TU Dresden. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Fragen der Hospitalität, der Fremdheit, der Diversität und der Konvivenz. Nach einem Gastaufenthalt am Boston College, Massachusetts, und an der Catholic University of America im vergangenen Jahr präsentierte René Dausner seine Thesen zuletzt auf internationalen Kongressen in Turku, Finnland, über die religiöse und ethnische Zukunft Europas, sowie in Rotterdam, Niederlande, über den Zusammenhang von Diversität, Stadtentwicklung und Religion.