Unterwegs im ältesten christlichen Land der Welt: Exkursion führt Studierende nach Armenien
Eine Exkursion des Lehrstuhls für Theologie des Christlichen Ostens der KU hat Studierende nach Armenien geführt. Ziel der Reise war es, die religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Realität dieses ältesten christlichen Landes der Welt aus theologischer und historischer Perspektive zu erschließen. Der Austausch mit kirchlichen Vertretern und akademischen Partnern stand im Mittelpunkt der von Prof. Dr. Thomas Kremer organisierten Exkursion.
Einen frühen Höhepunkt der Reise bildete eine Privataudienz bei Seiner Heiligkeit Karekin II. Nersissian, dem katholischen Oberhaupt („Katholikos“) aller Armenier. Bei der Begegnung in Etschmiadsin, dem geistlichen Zentrum des Landes, sprach Karekin unter anderem über die ökumenischen Beziehungen der armenischen Kirche. Weitere Themen waren die Organisation der Kirche des Landes angesichts der Diaspora-Situation sowie die Aufgaben, die sich aus der weltweiten Verstreuung der Armenier ergeben. Auch heikle Fragen kamen bei der Audienz zur Sprache – etwa das Verhältnis zu Patriarch Kyrill von Moskau und die sensiblen Beziehungen zwischen Kirche und Staat. „Karekin antwortete sehr behutsam und diplomatisch“, erinnert sich Professor Kremer im Rückblick, „und doch gewährte das Gespräch einen aufschlussreichen Einblick in die politische und kirchliche Realität des heutigen Armeniens.“
Begegnung mit dem Katholikos von Armenien, Karekin II.
Im Anschluss besuchte die 22-köpfige KU-Delegation die Gevorkian Theological Academy, eine Partnerhochschule der KU, und wurde dort von Archimandrit Andreas Yezekyan, Dozent für Patristik, empfangen. Der Rundgang durch die traditionsreiche Kathedrale und die Kirchen St. Hripsime und St. Gayane vermittelte einen Eindruck der architektonischen und geistlichen Grundlagen des armenischen Christentums.
Religion, Geschichte und Erinnerung
Armenien, das älteste christliche Land der Welt, zeigte sich während der Exkursion als ein Ort, an dem Religion, Geschichte und nationale Identität eng miteinander verwoben sind. Immer wieder kamen auch historische Brüche zur Sprache, vor allem die Erinnerung an den Völkermord von 1915. In Musaler, einem Ort, der an den Widerstand armenischer Dorfbewohner gegen die osmanischen Truppen erinnert, wie auch in der Genozid-Gedenkstätte Tsitsernakaberd in Jerewan, wurde deutlich, wie tief das Ereignis im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Das Schweigen im Gedenkraum und die schlichte Architektur der Anlage wurden von Teilnehmenden als Ausdruck großer Würde empfunden. „Erinnerung erscheint hier nicht als Rückschau, sondern als Teil der Gegenwart – sie prägt das nationale und gesellschaftliche Selbstverständnis Armeniens bis heute“, sagt Philipp Endres, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehrstuhl für Theologie des Christlichen Ostens.
Prof. Kremer an der Ruine der Rundkirche Zvartnots
Auf der Reiseroute lagen bedeutende religiöse und kulturelle Stätten des Landes: die Ruine der Rundkirche von Zvartnots, die Klöster Noravank, Tatev, Haghpat und Sanahin sowie das an der türkischen Grenze gelegene Khor Virap. Diese Orte boten einen Einblick in die Entwicklung der armenischen Sakralarchitektur und ihre symbolische Kraft. In Khor Virap, dem Ort der Gefangenschaft Gregors des Erleuchters, richtete sich der Blick auf den jenseits der Grenze liegenden Berg Ararat – ein Motiv, das die ganze Reise begleitete. Der über 5137 Meter hohe Vulkan im Armenischen Hochland gilt als eines der stärksten nationalen Symbole Armeniens und steht für Herkunft, Glauben und Identität.
Im Kloster Tatev begegnete die Gruppe Abt Sahag, der von seiner Herkunft aus Berg‑Karabach erzählte und berichtete, wie er infolge der militärischen Auseinandersetzungen seine Heimat verlassen musste. Seine persönliche Geschichte veranschaulichte auf eindrückliche Weise, wie stark die Gegenwart des Landes noch immer von politischen Spannungen und Vertreibungserfahrungen geprägt ist.
Die 22-köpfige KU-Delegation
Wissenschaftlicher Austausch
Ein Schwerpunkt der Exkursion lag auf dem wissenschaftlichen Dialog. Beim Forschungsforum in Tsapatagh am Sevan-See stellten Studierende ihre Abschluss‑ und Qualifikationsarbeiten vor und diskutierten methodische Ansätze zur Erforschung der Theologie, Geschichte und Spiritualität des christlichen Ostens. „Das Forum bot einen Raum für intensiven Austausch und gegenseitiges Feedback“, sagt Kremer. Teil des Programms war auch der Besuch der NGO Armenian Camp, einer gemeinnützigen Einrichtung für Menschen mit Behinderungen und Kriegsverletzte, die körperliche und soziale Rehabilitation durch Sport und Gemeinschaftsarbeit fördert. Kremer zufolge vermittelte der Besuch „ein anschauliches Beispiel für kirchlich inspirierte Sozialarbeit in einem Land mit begrenzten Ressourcen“.
Im Norden des Landes führten Besuche der UNESCO‑Welterbestätten Haghpat und Sanahin sowie der Klöster Akhtala und Odzun zum Verständnis der mittelalterlichen Bildungs‑ und Kunsttraditionen Armeniens. In Gyumri, der zweitgrößten Stadt des Landes, empfing Bischof Kevork Noradounguian die Gruppe in der armenisch‑katholischen Kathedrale. Er schilderte die pastoralen Herausforderungen seiner Kirche, das Zusammenleben verschiedener Konfessionen und die Auswirkungen der politischen Situation auf die Gemeinden. Die Kirche stehe vor der Aufgabe, den Menschen unter unsicheren Bedingungen Halt zu geben, so der Bischof.
Kulturelles Gedächtnis und Forschung in Jerewan
In der Klosterkirche Tatev
In Jerewan besuchte die Gruppe das Matenadaran, das nationale Institut für alte Handschriften. Fachkräfte des Hauses führten durch die Sammlung und erläuterten die wissenschaftliche Arbeit an der Bewahrung, Restaurierung und Digitalisierung seltener Kodizes. „Das Matenadaran ist nicht nur Archiv, sondern aktives Forschungszentrum“, erklärt Endres. Anschließend empfing der Vizebotschafter Lars Henning die Gruppe in der Deutschen Botschaft und sprach über Armeniens geopolitische Lage, die Folgen der Karabach-Krise und die Rolle der internationalen Gemeinschaft.
Die Armenien-Exkursion, die durch das PROMOS-Programm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) gefördert wurde, führte den Teilnehmenden vor Augen, wie eng in diesem Land Religion, Geschichte und gesellschaftliche Wirklichkeit miteinander verflochten sind. In Gesprächen, wissenschaftlichen Diskussionen und persönlichen Begegnungen entstand ein differenziertes Bild einer Nation, die ihre reiche Tradition bewahrt und zugleich mit den Herausforderungen der Gegenwart ringt. „Was uns besonders beeindruckt hat“, so Kremer abschließend, „war die Verbindung von tiefer geschichtlicher Verwurzelung und bemerkenswerter Offenheit. Armenien ist ein Land, das Vergangenheit und Zukunft nicht trennt, sondern miteinander ins Gespräch bringt.“