Warum bin ich hier? Programm hilft Jugendlichen in Heimen, ihre Geschichte zu verstehen

Gruppensitzung - Symbolbild
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Warum wohne ich nicht bei meinen Eltern? Für viele Kinder und Jugendliche in Wohngruppen oder Heimen ist diese Frage prägend – und oft schmerzhaft unbeantwortet. Ein neues Handbuch gibt Fachkräften in der Jugendhilfe ein Programm zur strukturierten Biografiearbeit an die Hand, das jungen Menschen hilft, die eigene Geschichte zu verstehen. Co-Autorin ist Prof. Dr. Elisa Pfeiffer, Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der KU.

Prof. Dr. Elisa Pfeiffer
© Christian Klenk Prof. Dr. Elisa Pfeiffer

Das Programm „Ankommen“ ist eine Gruppenintervention für junge Menschen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Ziel ist es, insbesondere Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren Raum zu geben, ihre Geschichte zu reflektieren, Brüche zu verstehen und ein Stück mehr bei sich selbst und in der Jugendhilfeeinrichtung „anzukommen“. Entwickelt und evaluiert wurde es von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Universitätsklinikums Ulm in enger Zusammenarbeit mit Partnern in der Jugendhilfe. Zum Team gehört auch KU-Professorin Elisa Pfeiffer, die bis 2024 am Uniklinikum Ulm als leitende Psychologin tätig war und bis heute die dortige Arbeitsgruppe „Psychotraumatologie im Kindes-​ und Jugendalter" leitet. 

Viele Kinder und Jugendliche in Heimen haben traumatische Erfahrungen gemacht: Gewalt, Vernachlässigung, Bindungsabbrüche. „Gleichzeitig wissen viele Jugendliche gar nicht genau, warum sie nicht mehr bei ihrer Familie leben“, erklärt Elisa Pfeiffer. „Biografiearbeit hilft ihnen ihre Geschichte zu verstehen, mit Loyalitätskonflikten und Schamgefühlen umzugehen und sich als handlungsfähige Person mit einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erleben.“

In acht Sitzungen werden zunächst Informationen vermittelt, beispielsweise zu Kinderrechten und dem formalen Prozess der Fremdunterbringung, sowie Strategien im Umgang mit den eigenen Gefühlen und Stress. Im Zentrum des Programms steht aber die Biografiearbeit, in der die Jugendlichen sich mit ihrem bisherigen Leben und insbesondere ihren ersten Tagen in der Einrichtung auseinandersetzen. „Diese Kinder und Jugendlichen haben oft so viel erlebt, das reicht für ein ganzes Leben und wäre zu viel für diese Sitzungen“, erklärt Psychotherapeutin Pfeiffer. „Wir betrachten daher gezielt den Übergang von zu Hause in die Einrichtung: Was habe ich in den ersten Tagen erlebt? Und was habe ich gefühlt?“ Konkret thematisiert werden mögliche Loyalitätskonflikte gegenüber der Herkunftsfamilie und Stigmatisierungen, beispielsweise erarbeiten die Teilnehmenden eine persönliche „Coverstory“ als Antwort auf die Frage, warum sie nicht bei ihren Eltern wohnen.

„Ankommen“ ist keine Therapie, sondern ein pädagogisches Gruppenprogramm, das von Mitarbeitenden der Jugendhilfe selbst durchgeführt wird. „Es war uns wichtig, dass diese Intervention niedrigschwellig ist. So müssen die Kinder nirgends extra hinkommen und kennen die Fachkräfte vor Ort, die das Programm durchführen, bereits gut und haben Vertrauen“, erklärt Elisa Pfeiffer. Trotz begrenzter zeitlicher Ressourcen haben die beteiligten Fachkräfte bislang sehr positiv auf diesen Ansatz reagiert: „Viele gestalten die Gruppenarbeit über die Anleitungen in unserem Handbuch hinaus mit eigenen Ideen und Ritualen und sind unglaublich motiviert.“

Ein wichtiger Baustein des Konzepts ist zudem der Austausch mit Gleichaltrigen in der Gruppe, wie sich in der Evaluation zeigte. Viele Jugendliche berichteten, dass sie nach der Teilnahme auch im Alltag offener über ihre Probleme sprechen konnten. Das Gruppensetting vermittle den Jugendlichen ein Gefühl von „Normalisierung“ und gegenseitiger Unterstützung, betont Elisa Pfeiffer. 

Die Pilotstudie mit 115 Jugendlichen in 18 stationären Jugendhilfeeinrichtungen in Süddeutschland zeigt insgesamt vielversprechende Ergebnisse: Besonders Teilnehmende mit niedrigem Selbstwert und hoher psychischer Belastung profitierten. Ihr Selbstwertgefühl und ihr Erleben von Selbstwirksamkeit verbesserten sich signifikant, zugleich nahmen Symptome für Depression und posttraumatische Belastungsstörung ab. „Das Programm stärkt das Vertrauen der Teilnehmenden in sich selbst und hilft ihnen auch schwierige Aspekte der eigenen Biografie einzuordnen“, resümiert Pfeiffer. 

Sehr nachvollziehbar also, dass viele der am Projekt beteiligten Einrichtungen das Programm mittlerweile fest in ihren Strukturen etabliert haben und regelmäßig anbieten. Das Autorenteam hofft, dass „Ankommen“ über das Handbuch noch deutlich weiter verbreitet wird. Neben der Ausgabe für Jugendliche von 12 bis 17 Jahren gibt es inzwischen auch eine Kinderversion für 7- bis 11-Jährige. Beide Manuals sind als E-Book kostenlos verfügbar und können ohne zusätzliche Schulung genutzt werden, eine vorbereitende Fortbildung wird aber empfohlen. Gefördert wurde das Projekt von der Baden-Württemberg Stiftung.