„Weniger Englischunterricht führt nicht zu besserem Deutschunterricht!“

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Die in diesem Frühjahr erschienene neue Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) hat gezeigt, dass die Lesekompetenz von deutschen Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe schlechter ist als noch vor 20 Jahren. Seitdem wird darüber diskutiert, wie man diesem Ergebnis begegnen kann - etwa durch die Verschiebung von Schwerpunkten im Lehrplan. Derzeit nehmen Medienberichte bezug auf eine Mitglieder-Umfrage des Bayerischen Philologenverbandes, der die Interessen von Lehrkräften in Gymnasien und Berflichen Oberschulen vertritt. Demnach hätten mehr als 80 Prozent von knapp 280 befragten Englischlehrkräfte dafür plädiert, in den Grundschulen auf Englisch zugunsten von Deutsch und Mathematik zu verzichten, weil das Niveau zu unterschiedlich sei. Prof. Dr. Heiner Böttger, Inhaber der Professur für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur an der KU, hat sich in seiner Forschung eingehend mit den Effekten von frühem Englischunterricht beschäftigt und fordert eine Diskussion auf Grundlage wissenschaftlicher Belege und plädiert dafür, Abstand von einem Summenspiel mit den Schulstunden einzelner Fächer zu nehmen.

Herr Professor Böttger: Ist es nicht plausibel, knappe Ressourcen auf das „Kerngeschäft“ zu konzentrieren, wenn schon in der deutschen Sprache das Leseverständnis nachgelassen hat?

Das Problem einer erfolgreichen, auch mehrsprachigen Alphabetisierung ist ganz anders gelagert und viel komplexer. Ein Summenspiel wird dem überhaupt nicht gerecht, obwohl es populistisch einfach und nachvollziehbar erscheint. So können sich Quasi-Bildungsexperten immer wieder durch didaktisches und pädagogisches Halbwissen hervortun, als auf der Basis von wissenschaftlichen Evidenzen zu argumentieren. Solche Tendenzen tragen erheblich dazu bei, Lehrkräfte, die sich tagtäglich erfolgreich um die fremdsprachliche Bildung unsere Kinder bemühen, weiter zu demotivieren, bzw. mögliche künftige von einer entsprechenden Berufswahl abhalten.
Die Rechnung ist eine völlig falsche: Weniger Englischunterricht führt nicht zu besserem Deutsch! Große empirische Untersuchungen wie die EVENING-Studie 2009, die BIG-Studie 2014 oder zuletzt die Ergebnisse des Modellversuchs „Bilinguale Grundschule Bayern Englisch“ von 2020 zeigen eigentlich in regelmäßigen Abständen die großartigen fremdsprachlichen Lernerfolge unsere Kinder – und damit auch der beteiligten Lehrkräfte – auf.  Meine Haltung ist die, dass es seit 15 Jahren aus dem Bereich der für Lehr-/Lernforschung im Fremdsprachenfrühbeginn genügend einschlägige Evidenzen aus den Bereichen Bildungspsychologie, Neurowissenschaften, Pädagogik, Linguistik und Fachdidaktik gibt, die genau das Gegenteil von dem aussagen, das der Verband propagiert. Ich bin nicht mal mehr über die fachliche Ignoranz verwundert, mit der Grundschul-Englischunterricht immer wieder in regelmäßigen Abständen seit seiner Einführung immer wieder in Frage gestellt wird.


Gibt es Schnittstellenprobleme zwischen der abgebenden und der weiterführenden Schule? Sie erwähnen in einer Stellungnahme, dass dem Philologenverband das Curriculum der Grundschule nicht geläufig sei, welches Hörverstehen, elementares Sprechen und interkulturelles Lernen umfasse.

Eine solche Schnittstellenproblematik gibt es bezüglich des Englischunterrichts in der Grundschule schon seit seiner Einführung. Viele gute und wirksame Maßnahmen zur Harmonisierung des fremdsprachlichen Bildungsverlaufs zwischen Grundschule und Sekundarschulen hat es bereits gegeben, Curricula sind aufeinander abgestimmt, die Lehr- und Lernmaterialien der Verlage wurden angepasst, die Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sind bereits institutionalisiert. Hinderlich sind weiterhin systemische Fragen: 16 Bundesländer halten 16 unterschiedliche Organisationsformen für den Fremdsprachenfrühbeginn vor, Englischunterricht wird vor allem in der vierten Klasse, also direkt vor dem Übergang, zugunsten von Mathematik und Deutsch gekürzt oder entfällt gar, da unbenotet und nicht verbindlich. So entsteht für Englischlehrkräfte in der Sekundarstufe der nachvollziehbare  Eindruck, das nicht allzu viel Lernerfolg in der Fremdsprache geblieben ist. Sieht man sich allerdings die Hauptaspekte des Lehrplans an, so muss man das sehr differenziert beurteilen: Hörverstehen, elementares Sprechen, und interkulturelles Lernen bilden die Schwerpunkte, nicht grammatikalisches Wissen, Lesen und Schreiben. Die Beurteilungsgrundlagen des fremdsprachlichen Lernerfolgs in der Grundschule sind also völlig falsch. Nahezu alle Sekundarlehrkräfte, die einmal in der Grundschule hospitiert haben, sind jedoch verwundert, was die Kinder fremdsprachlich in der Lage sind zu leisten. Es ist also ein Haltungswechsel vonnöten, mehr gegenseitige Kommunikation zwischen den Schulstufen, begleitet von gegenseitiger Wertschätzung. Schließlich bleibt noch eine ganz besondere Maßnahme übrig: Die universitäre Ausbildung von Englischlehrkräften an der Grundschule ist noch nicht flächendeckend ausreichend.

 

Prof. Dr. Heiner Böttger, Inhaber der Professur für Didaktik der Englsichen Sprache und Literatur
Prof. Dr. Heiner Böttger, Inhaber der Professur für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur

Welche Vorteile bringt früher Fremdsprachenerwerb in der Grundschule laut Ihren eigenen Untersuchungen? Wer profitiert besonders davon? Und welchen Benefit haben die Lehrkräfte selbst?

Der Langzeit-Schulversuch „Bilinguale Grundschule Bayern Englisch“ mit 1000 Kindern, den wir über fünf Jahre begleitet haben, zeigt deutlich: Die Englischkompetenzen entwickeln sich rasant, Deutschkompetenzen leiden – anders als propagiert – nicht, die Vorteile in Mathematik, der kognitiven Entwicklung also, sind signifikant. So wurde der Schulversuch vor einem Monat zum Profilelement in Bayern, neben der Ganztagsschule. Ein unglaublicher Erfolg für mich als Forscher. Und ein weiterer Beweis unter vielen anderen. Es profitieren davon alle Beteiligten: die Kinder, die Eltern der Kinder und die Lehrkräfte, die nicht ein spezielles Curriculum sklavisch erfüllen müssen, sondern Unterricht bilingual – jetzt auch übrigens in Französisch, mit gleichen Erfolgen – gestalten können. Aus Consumer werden Prosumer. Und noch einen ganz anglistisch drauf: Eine Win-Win-Win-Situation.
Es ist unbestritten, seit über 10 Jahren, dass die Vorteile so groß sind, dass sich Infragestellungen des Grundschulenglischunterrichts von selbst verbieten. Es sind auch so viele Vorteile, dass es für jemanden wie mich extrem schwierig ist, unverdaute anderslautende Bewertungen zu tolerieren und zu akzeptieren. Wer die Vorteile negiert, verhält sich unseren Kindern gegenüber unfair und deckelt mögliche enorme sprachliche Entwicklungen – aller Kinder, mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Förderungsbedarf. Gerade im Grundschulalter – und davor – befindet sich das kindliche Gehirn noch in der sprachlich sensiblen und entwicklungsstärksten Phase. Sprachen werden schnell, effizient, intuitiv und spielerisch aufgenommen und verarbeitet. Die jeweilige Muttersprache profitiert vom meist unbewussten Vergleich mit dem fremdsprachlichen Input – eine frühe autonome Lernstrategie, die später automatisch für das Erlernen weiterer Sprachen verwendet wird. Das betrifft beispielsweise die Aussprache oder grundlegende Grammatik- und Strukturkenntnisse, die für das Verständnis anderer Sprachen von Vorteil sind. Das wachsende interkulturelle Bewusstsein ist zu nennen, hinzu kommt noch das sich langsam aufbauende Selbstbewusstsein im Umgang mit Sprachen. Das Kommunikationsverhalten wird differenzierter – und ganz wichtig: Fehler werden von den Kindern als notwendiger Teil des Sprachlernprozesses erkannt und in Kauf genommen. Dahin muss sich der Englischunterricht insgesamt allerdings noch entwickeln, und Aufgabenformate schaffen, die eine Selbstbewusstsein fördernde, nichtrestriktive Sprachverwendung möglich machen. Der Grundschulenglischunterricht tut dies weitgehend, da er unbenotet bleibt.


Wie kann man die Forderung nach mehr Förderung der deutschen Lesekompetenz im Grundschulunterricht mit Englisch unter einen Hut bringen?

Die Beschäftigung mit der englischen Sprache hat durch den impliziten Kontrast mit der Muttersprache oder Schulsprache Deutsch eine sprachfördernde Wirkung: Die internen Grammatiken beider Sprachen werden beispielsweise bewusst oder vor allem auch unbewusst verglichen, Wortgleichheiten oder -ungleichheiten erkannt, alphabetische Besonderheiten internalisiert. Es kommt automatisch zu einer Mehrbeschäftigung mit der deutschen Sprache und damit zu einer vertiefteren Verarbeitung des Deutschen. Die Mutter-, Erst- oder Fremdsprache Deutsch profitiert also vom Englischen ganz erheblich. Dies gilt im Übrigen für jede Muttersprache und ist der Schlüssel zur Behandlung und Integration von Migrationssprachen. Es ist also nichts unter einen Hut zu bringen, sondern ist bereits interdependent. Die Bildungsverantwortlichen müssten sich zusammen mit den ja vorhandenen Expertinnen und Experten lediglich einmal Gedanken über ein Kontinuum der sprachlichen Bildung in Deutschland Gedanken machen. Das steht noch aus, diesen Weitblick allerdings traue ich derzeit auch nur sehr wenigen verantwortlichen Personen zu. Das Defizit wird meines Erachtens also mittelfristig noch bestehen.
 

Wie ließen sich die Befürworter und Gegner von Englisch in der Grundschule vielleicht versöhnen?

Als Befürworter wäre ich beispielsweise schon versöhnt, wenn sich die Gegner einmal ausführlich mit den vorhandenen Erkenntnissen und Befunden beschäftigen würden. Erst dann können Fachleute wie ich sich mit Ihnen ernsthaft auseinandersetzen und versuchen, Lösungen zu finden. Bis dahin bleibt weiterhin die Verwunderung über so viel sprachbildungswissenschaftliche Ignoranz.



Die Fragen stellte Constantin Schulte Strathaus.


Weitere Informationen zu den Ergebnissen des von der Professur für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur begleiteten Modellversuchs „Bilinguale Grundschule Englisch“ unter https://www.ku.de/news/bilingualer-grundschulunterricht-steigert-leistungen-auch-in-deutsch-und-mathematik.