Herr Professor Böttger: Ist es nicht plausibel, knappe Ressourcen auf das „Kerngeschäft“ zu konzentrieren, wenn schon in der deutschen Sprache das Leseverständnis nachgelassen hat?
Das Problem einer erfolgreichen, auch mehrsprachigen Alphabetisierung ist ganz anders gelagert und viel komplexer. Ein Summenspiel wird dem überhaupt nicht gerecht, obwohl es populistisch einfach und nachvollziehbar erscheint. So können sich Quasi-Bildungsexperten immer wieder durch didaktisches und pädagogisches Halbwissen hervortun, als auf der Basis von wissenschaftlichen Evidenzen zu argumentieren. Solche Tendenzen tragen erheblich dazu bei, Lehrkräfte, die sich tagtäglich erfolgreich um die fremdsprachliche Bildung unsere Kinder bemühen, weiter zu demotivieren, bzw. mögliche künftige von einer entsprechenden Berufswahl abhalten.
Die Rechnung ist eine völlig falsche: Weniger Englischunterricht führt nicht zu besserem Deutsch! Große empirische Untersuchungen wie die EVENING-Studie 2009, die BIG-Studie 2014 oder zuletzt die Ergebnisse des Modellversuchs „Bilinguale Grundschule Bayern Englisch“ von 2020 zeigen eigentlich in regelmäßigen Abständen die großartigen fremdsprachlichen Lernerfolge unsere Kinder – und damit auch der beteiligten Lehrkräfte – auf. Meine Haltung ist die, dass es seit 15 Jahren aus dem Bereich der für Lehr-/Lernforschung im Fremdsprachenfrühbeginn genügend einschlägige Evidenzen aus den Bereichen Bildungspsychologie, Neurowissenschaften, Pädagogik, Linguistik und Fachdidaktik gibt, die genau das Gegenteil von dem aussagen, das der Verband propagiert. Ich bin nicht mal mehr über die fachliche Ignoranz verwundert, mit der Grundschul-Englischunterricht immer wieder in regelmäßigen Abständen seit seiner Einführung immer wieder in Frage gestellt wird.
Gibt es Schnittstellenprobleme zwischen der abgebenden und der weiterführenden Schule? Sie erwähnen in einer Stellungnahme, dass dem Philologenverband das Curriculum der Grundschule nicht geläufig sei, welches Hörverstehen, elementares Sprechen und interkulturelles Lernen umfasse.
Eine solche Schnittstellenproblematik gibt es bezüglich des Englischunterrichts in der Grundschule schon seit seiner Einführung. Viele gute und wirksame Maßnahmen zur Harmonisierung des fremdsprachlichen Bildungsverlaufs zwischen Grundschule und Sekundarschulen hat es bereits gegeben, Curricula sind aufeinander abgestimmt, die Lehr- und Lernmaterialien der Verlage wurden angepasst, die Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sind bereits institutionalisiert. Hinderlich sind weiterhin systemische Fragen: 16 Bundesländer halten 16 unterschiedliche Organisationsformen für den Fremdsprachenfrühbeginn vor, Englischunterricht wird vor allem in der vierten Klasse, also direkt vor dem Übergang, zugunsten von Mathematik und Deutsch gekürzt oder entfällt gar, da unbenotet und nicht verbindlich. So entsteht für Englischlehrkräfte in der Sekundarstufe der nachvollziehbare Eindruck, das nicht allzu viel Lernerfolg in der Fremdsprache geblieben ist. Sieht man sich allerdings die Hauptaspekte des Lehrplans an, so muss man das sehr differenziert beurteilen: Hörverstehen, elementares Sprechen, und interkulturelles Lernen bilden die Schwerpunkte, nicht grammatikalisches Wissen, Lesen und Schreiben. Die Beurteilungsgrundlagen des fremdsprachlichen Lernerfolgs in der Grundschule sind also völlig falsch. Nahezu alle Sekundarlehrkräfte, die einmal in der Grundschule hospitiert haben, sind jedoch verwundert, was die Kinder fremdsprachlich in der Lage sind zu leisten. Es ist also ein Haltungswechsel vonnöten, mehr gegenseitige Kommunikation zwischen den Schulstufen, begleitet von gegenseitiger Wertschätzung. Schließlich bleibt noch eine ganz besondere Maßnahme übrig: Die universitäre Ausbildung von Englischlehrkräften an der Grundschule ist noch nicht flächendeckend ausreichend.